04 Jun 2016

Desillusionierte amerikanische Träume

von Pan Pawlakudis (Bearbeitung)

 

Transskript eines Beitrages von Prof. Dr. Noam Chomsky 

Während der Weltwirtschaftskrise von 1929 gehörten die meisten in den USA Lebenden, den Erwerblosen der Arbeiterklasse an. Es war, subjektiv betrachtet, schlimmer als heute, aber man nahm an, dass es nur besser werden konnte. Es gab ein echtes Gefühl der Hoffnung. Heute haben US-Amerikaner diese Hoffnung nicht mehr!

Die Ungleichheit der heutigen Tage ist beispiellos. Wenn man die gesamte ökonomische Ungleichheit betrachtet, befinden sich die Amerikaner in der schlimmsten Zeit der amerikanischen Geschichte. Und wenn man es dezidiert und genauer betrachtet, entstammt die Ungleichheit dem extremen Reichtum einer winzigen Bevölkerungsgruppe, einem Bruchteil von 1%.

Es gab eine Zeit, wie die Blütezeit in den 1920. Jahren, in der die Amerikaner dabei waren, sich des feudalökonomischen Systems zu entledigen. Die Depression von 1929 wiederholte sich, 1967 und 1974, zwar nicht im selben Maß aber ähnlicher Qualität. Die heutige Zeit dagegen ist extrem, wenn man sich die Vermögensverteilung vertikal betrachtet und feststellt, dass die Ungleichheit hauptsächlich von den Superreichen verursacht wurde.

Die Superrechen machen buchstäblich nur 1/10% der US-Gesamtbevölkerung aus. Das ist nicht nur an sich höchst ungerecht, Ungleichheit hat auch äußerst negative Konsequenzen für die Gesellschaft als Ganzes, denn ihre Realität wirkt sich zerstörerisch auf die Demokratie aus. Ob es nicht so beabsichtigt ist, kann gerne bezweifelt werden.

Es begann mit dem amerikanischen Traum und der gesellschaftlichen Mobilität, die Teil dieses amerikanischen Traums der 1950. Jahre war: Man wird arm geboren. Man arbeitet hart. Man wird reich. Einfache Arbeiter konnten einen guten Job finden, ein Haus und ein Auto kaufen, seine Kinder auf die kostenlose, öffentliche Schule schicken. Dann brach alles zusammen.

 

Der Epilog des amerikanischen Traums

In den Vereinigten Staaten gibt es erklärte Werte, wie z.B. die Demokratie und in einer Demokratie schlägt sich die öffentliche Meinung in der Politik nieder. Hiernach führt die Regierung Handlungen aus, die von der Bevölkerung bestimmt wurden. Das ist es, was Demokratie bedeutet! Es ist wichtig zu wissen, dass privilegierte und mächtige Sektoren die Demokratie nie mochten und zwar aus gutem Grund: Die Demokratie nimmt ihnen die Macht weg und legt sie in die Hände der Allgemeinheit. Es verhält sich wie das Prinzip der Konzentration von Reichtum und Macht.

Die Konzentration von Reichtum zieht die Konzentration von Macht nach sich, besonders, da insbesondere die Wahlkosten sprunghaft ansteigen, mit der Konsequenz, dass die politischen Parteien Richtung Großunternehmen gezwungen werden. Diese politische Macht wird in eine Gesetzgebung verwandelt, die die Konzentration von Reichtum weiter erhöht. Die Geldpolitik ist, ebenso wie die Steuerpolitik, die Liberalisierung (Deregulierung), die Regeln zur Unternehmensführung und eine Vielzahl politischer Maßnahmen, darauf ausgerichtet, die Konzentration von Reichtum und Macht zu steigern, was wiederum zu größerer politischer Macht führt. Genau das erleben wir seit 50-60 Jahren.

Wir befinden uns in einer Art Teufelskreis. Tatsächlich hat das so große Tradition, dass es Adam Smith 1776 in seinem berühmten Werk „Der Wohlstand der Nationen“ beschrieb. Laut Smith sind die Architekten der englischen Politik, die Menschen, die die Gesellschaft besitzen. Zu seiner Zeit waren das die Kaufleute und die Fabrikbesitzer. Sie stellten sicher, dass ihre eigenen Interessen sehr gut bedient werden und zwar egal, wie schwerwiegend sich ihre Interessen auf die Menschen in England auswirkten. Heute sind es nicht mehr die Kaufleute und Fabrikbesitzer, sondern Finanzinstitute und multinationale Konzerne.

Die Menschen, die Adam Smith die „Herren der Welt“ nannte, folgen einer abscheulichen Maxime: Alles für uns, nichts für die anderen. Sie verfolgen nur die Politik, die ihnen nutzt und folglich dem Rest schadet. In Ermangelung einer allgemeinen vom Volk ausgehenden Reaktion, kann man substantiell eigentlich nichts anderes erwarten.

 

Demokratieabbau

Seit Beginn der amerikanischen Geschichte herrscht ein dauerhafter Konflikt zwischen der Forderung nach mehr Freiheit und Demokratie von unten und dem Streben nach elitärer Kontrolle und Herrschaft von oben. Das lässt sich bis zur Gründung der USA zurückverfolgen.

James Madison, der Hauptautor der amerikanischen Verfassung, der genauso fest von der Demokratie überzeugt war, wie jeder andere damals, glaubte dennoch daran, dass das System der USA so konzipiert werden sollte und dank seiner Initiative wurde es auch entsprechend formuliert und gestaltet, dass die Macht in den Händen der Reichen liegt, denn die Reichen seien die verantwortungsvolleren Menschen. Daher legte das Rahmenwerk der offiziellen Verfassungsordnung, den Großteil der Macht in die Hände des Senats. Damals wurde jedoch der Senat nicht vom Volk gewählt, sondern unter den Reichen ausgewählt. Das Volk, so Madison, „[…] hegt keine Sympathien für Grundbesitzer und ihre Rechte.“.

Wenn man die Debatten der verfassungsgebenden Versammlung liest, wird Madison wie folgt zitiert: „Die größte Sorge der Gesellschaft muss dem Schutz der wohlhabenden Minderheit vor der Mehrheit gelten.“ und er liefert gleichsam die Argumente zu dieser Forderung: „Angenommen, jeder könnte frei wählen,“ sagte er: „die Mehrheit der Armen würde sich verbünden und sie würden Pläne schmieden, um den Reichen ihren Besitz wegzunehmen.“ Und er führte weiter aus „Das wäre offensichtlich ungerecht. Das können wir nicht zulassen! Deshalb muss die Verfassungsordnung so ausgelegt werden, dass die Demokratie verhindert wird.“

Es ist interessant, dass diese Debatte eine uralte Tradition hat. Sie reicht weit zurück bis zur ersten großen Schrift über politische Systeme, „Die Politik“ von Aristoteles. Der berühmte Satz: „Unter den Staatsformen ist die Attische Demokratie die beste“, weist aber auf genau den Schwerpunkt hin, den Madison aufzeigte: „Wenn Athen eine Demokratie für freie Menschen wäre, würden sich die Armen verbünden und den Reichen ihren Besitz wegnehmen.“ Dasselbe Dilemma aber gegenteilige Lösungen. Aristoteles schlug vor, was wir heute einen Sozialstaat nennen. Er sagte: „Versuchen wir die Ungleichheit zu mindern.“. Aristotelische Logik: „Ungleichheit verringern, beseitigt das Problem“ gegen Madison´s „Einschränkung der Demokratie“.

Wenn man sich die Geschichte der USA anschaut, sieht man ein ständiges Ringen zwischen diesen beiden Richtungen. Eine demokratisierende Strömung, hauptsächlich aus der Bevölkerung heraus und der Druck von oben. So findet ein ständiger Kampf statt mit Zeiten des Rückschritts und Zeiten des Fortschritts. Die 1960. Jahre waren zum Beispiel eine Zeit merklicher Demokratisierung. Teile der Bevölkerung, die sonst passiv und politisch apathisch waren, organisierten sich, wurden aktiv, verliehen ihren Forderungen Nachdruck und beteiligten sich immer stärker an der Entscheidungsfindung. Das hat das Bewusstsein in vielerlei Hinsicht verändert: Minderheitenrechte, Frauenrechte, Umweltbewusstsein, Widerstand gegen Gewalt, soziales Gewissen. Sie fragten sich „Wenn Demokratie Freiheit bedeutet, warum sind die Schwarzen nicht frei? Wenn Demokratie Gleichheit bedeutet, warum haben wir dann keine Gleichheit? Wenn Demokratie Frieden bedeutet, warum töten wir Vietnamesen?“. Das alles sind zivilisatorische Effekte und ausgerechnet diese Humanität löste größte Ängste aus!

Man konnte nicht vorhersehen, welche kraftvolle Gegenwehr gegen diese zivilisatorischen Effekte organisiert wurde. Man sah die Intensität der Reaktion darauf nicht voraus. Wie reagierte die Machtelite?

 

Formulieren von Ideologien

Es gab eine gewaltige, konzentrierte, koordinierte Unternehmensoffensive, die in den 1970. Jahren begann und mit der, während der gesamten Amtszeit von Richard Nixon, die egalitären Bemühungen abgewehrt werden sollten.

Auf der rechten Seite sieht man es am berühmten Lewis F. Powell Memorandum, das der Handelskammer – der führenden Wirtschaftslobby – von diesem späteren Richter am Obersten Gerichtshof der USA mit der Warnung vorgelegt wurde, dass die Wirtschaft die Kontrolle über die Gesellschaft verliert und es müsse etwas geschehen, um diesen Kräften entgegenzuwirken. Powell benutzt dabei natürlich das Wort „Verteidigung“: „Wir verteidigen gegen eine äußere Macht“ oder „Kein aufmerksamer Amerikaner hat Zweifel daran, dass das amerikanische Wirtschaftssystem stark unter Beschuss steht“. Das ist Kriegssemantik gegen den inneren Feind, dem Volk.

Wenn man es genauer betrachtet, ist es ein Aufruf an die Wirtschaft, ihre Kontrolle über Ressourcen zu nutzen, um mit einer gewaltigen Offensive diese Demokratiewelle zurückzuschlagen. Die Grundlegende Prämisse dieser Abhandlung besagt, dass die Wirtschaft in Schwierigkeiten steckt und dass die Zeit drängt. Auf der liberalen Seite sieht man etwas Ähnliches. Der erste große Bericht der Trilateralen Kommission beschäftigt sich damit. Dort heißt es „The Crisis of Democracy“ (Die Krise der Demokratie).

Die Trilaterale Kommission bestand bis dahin aus liberalen Internationalisten. Ihre übliche Vorgehensweise lässt sich aus dem Umstand ableiten, dass sie fast komplett an der Carter-Regierung beteiligt waren. Auch sie waren von den demokratisierenden Tendenzen der 1960. Jahre entsetzt und fanden, sie müssten darauf entsprechend reagieren, denn sie stellten eine Gefahr für die bestehenden Machtsysteme dar. Sie waren in Sorge, dass sich ein „Übermaß an Demokratie“ entwickelt. Ehemals passive und obrigkeitshörige Teile der Bevölkerung, die manchmal auch „Sonderinteressen“ genannt wurden, organisierten sich, um sich den Zutritt zur politischen Bühne zu verschaffen. Die Mitglieder der Trilateralen Kommission sagten dazu: „Das übt zu viel Druck auf den Staat aus! Er kann diesem Druck nicht begegnen.“. Deshalb muss sich die Bevölkerung in die Passivität zurückbegeben und sich entpolitisieren.

Besondere Sorge bereitete ihnen, was mit jungen Menschen geschah: „Die Jungen werden zu frei und zu unabhängig“. So, wie es die Trilaterale Kommission darlegte, gab es ein Versagen aufseiten der Schulen, Universitäten, den Kirchen und der Institutionen, die für die „Indoktrination der Jugend“ verantwortlich waren. In der o.g. Schrift dieser Organisation gibt es ein Interesse, das unerwähnt bleibt: Die Privatwirtschaft. Und das ergibt Sinn. Sie ist kein „Sonderinteresse“, denn sie gehört per Definition zum nationalen Interesse. Sie darf Lobbying betreiben, Wahlkampagnen kaufen, die Exekutive mit ihren Leuten besetzen, Entscheidungen treffen. Alles in Ordnung. Aber die allgemeine Bevölkerung muss unterworfen werden. Das ist in etwa das ideologische Niveau der Gegenreaktion. Jedoch die größte Gegenreaktion, die parallel stattfand, war die Umgestaltung der Wirtschaft.

 

Reorganisation der Wirtschaft

Seit den 1970. Jahren gibt es eine gemeinsame Anstrengung seitens der „Eigentümer der Gesellschaft“, wie es Madison formulierte, die Wirtschaft in zwei entscheidenden Punkten zu verlagern: 1. Die Rolle der Finanzinstitute, Banken, Investmentfirmen, Versicherungsgesellschaften usw. zu vergrößern und 2. Die Produktionsverlagerung ins Ausland.

Bis 2007, direkt vor dem letzten Crash, vereinnahmte der Finanzsektor tatsächlich ca. 40% der Unternehmensgewinne – weit mehr als jemals zuvor. In den 1950. Jahren und lange Zeit zuvor stützte sich die amerikanische Wirtschaft größtenteils auf die Produktion. Die Vereinigten Staaten waren das große Produktionszentrum der Welt. Finanzinstitute machten vor den 1970. Jahren einen recht kleinen Teil der amerikanischen Wirtschaft aus und ihre Aufgabe bestand darin, ungenutzte Vermögenswerte, wie Sparguthaben zu verteilen um sie gewinnbringend arbeiten zu lassen. Eine Bank hatte immer eine Geldreserve zur Verfügung, die von Sparern und Aktionären stammt. Basis dieser Bargeldreserven (Geldscheine und Münzen) konnte eine Bank Kredite bereitstellen. Eine Bank stellte nicht nur einen relativ sicheren Ort zur Geldaufbewahrung dar, sondern diente auch der Gemeinschaft. Das war der Beitrag der Finanzinstitute für die Wirtschaft der USA.

Es wurde ein Regelsystem eingeführt, Banken wurden reguliert, Geschäftsbanken wurden von Investmentbanken getrennt und riskante Anlagepraktiken für Privatleute wurden zurückgefahren. Bis 1970 änderte sich alles. Spekulative Kapitalbewegungen stiegen astronomisch an. Der Finanzsektor veränderte sich enorm, von traditionellen Banken hin zu risikoreichen Investitionen mit komplexen Finanzinstrumenten, Geldmanipulation, Versicherungsmodellen usw.

Der Anteil der Produktion an der Wirtschaft wurde zunehmend kleiner und die Unternehmen richteten sich neu aus, Richtung Investment. Man sieht es sogar an der Wahl der Geschäftsführer und Direktoren. Wo einst Ingenieure die Unternehmen lenkten, wurden sie von Betriebswirten und Finanzexperten abgelöst.

Heute besetzen fast grundsätzlich Absolventen der Wirtschaftswissenschaften, die Finanztricks verschiedener Art gelernt haben, Führungspositionen. Bspw. konnte in den 1970. Jahren eine Firma, wie General Electric, mit Geldspielereien mehr Profit erwirtschaften als mit der Produktion in den USA. Man muss dabei bedenken, dass GE heute im Wesentlichen ein Finanzinstitut ist und die Hälfte ihres Profits allein dadurch macht, dass sie Geld auf komplizierte Art und Weise hin- und herschiebt. Und es ist überhaupt nicht klar, ob sie irgendetwas tut, das für die Wirtschaft von realem Wert ist. Dieses Phänomen nennt man „Finanzialisierung der Wirtschaft“.

In dieselbe Richtung geht die Produktionsverlagerung ins Ausland. Das Handelssystem wurde mit dem ausdrücklichen Ziel umstrukturiert, die arbeitende Bevölkerung weltweit in Konkurrenz zueinander zu bringen, wettbewerbsfähig zu machen. Eine beschönigende Vokabel für ein brutales und inhumanes System der Ausbeutung.

Das hat dazu geführt, dass das Einkommen der Arbeiter anteilig sank und in den USA besonders auffällig ist, geschieht aber auf der ganzen Welt, seit dem Startschuss der Globalisierung, 1996. Ein amerikanischer Arbeiter steht seitdem im Wettbewerb zu seinem extrem ausgebeuteten Kollegen in China. Zugleich werden aber hochbezahlte Finanz-, Unternehmens- und Globalisierungsexperten geschützt. Sie müssen sich nicht der Konkurrenz zum Rest der Welt gesellen. Der Kapitalverkehr ist natürlich auch frei. Arbeiter können sich nicht frei bewegen, Arbeitsplätze auch nicht, Kapital aber schon.

Kommen wir nochmal zurück zu Adam Smith. Er betonte die Freizügigkeit der Arbeiter als Grundlage jedes Freihandelssystems. Aber Arbeiter sitzen mehr oder weniger fest und die Reichen und Privilegierten genießen Schutz und Förderung, werden anerkannt und sogar gelobt. Natürlich sind die daraus entstehenden Folgen offensichtlich.

Die Politik ist schlussendlich darauf ausgerichtet, die Unsicherheit zu vergrößern. Als Alan Greenspan vor dem Kongress aussagen musste, erklärte er den Erfolg seiner Geldpolitik mit einer „größeren Unsicherheit bei den Arbeitnehmern“, wie er es nannte. Zitat: „Eine untypische Zurückhaltung bei Lohnerhöhungen ist seit einigen Jahren offenkundig. Aber wie ich bereits in meiner Aussage letzten Monat detailliert ausgeführt habe, spielten ungesicherte Arbeitsverhältnisse meiner Meinung nach die Hauptrolle.“ Unsichere Arbeitnehmer lassen sich viel leichter und effektiver kontrollieren. Sie werden z.B. keine fairen Löhne, angemessene Arbeitsbedingungen oder Gewerkschaften fordern. Für die Meister der Welt ist das in Ordnung. Sie erzielen höhere Gewinne. Aber für die Bevölkerung ist es verheerend. Die beiden Prozesse, Finanzialisierung und Auslandsverlagerung (Offshoring) haben unter anderem den Teufelskreis von Konzentration von Reichtum und Konzentration von Macht befeuert.

Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet in der Vereinigten Staaten die Kritik am Staat, somit an die jeweilige Regierung und vor allem an die konzentrierte Macht der Konzerne, als Angriff auf die Gesellschaft, auf das gesamte Volk diffamiert wird. Soweit bekannt ist, ist die amerikanische, die einzige demokratische Gesellschaft in der dies heute noch möglich ist.

 

Last- und Kostenverlagerung

Der amerikanische Traum war, wie viele Ideale, zum Teil symbolisch und zum Teil real. In den 1950. und 1960. Jahre gab es die größte Wachstumsphase in der amerikanischen Geschichte. Das Wachstum war recht klassenfrei; das unterste Fünftel der Bevölkerung verbesserte sich fast genau so stark wie das oberste. Dazu entwickelte der Staat sozialstaatliche Maßnahmen, die das Leben für einen großen Teil der unteren Gesellschaftsschichten verbesserten. Es war einem afroamerikanischen Arbeiter möglich, einen relativ gut bezahlten Job in der Autoindustrie zu bekommen, ein Haus und ein Auto zu kaufen und seine Kinder zur Schule zu schicken. Vor nicht einmal 10 Jahren früher, war ein derart ökonomischer und sozialer Aufstieg für einen schwarzen Amerikaner geradezu unmöglich. Der Aufschwung galt für alle, ohne Ausnahme.

Als die Vereinigten Staaten in der Hauptsache ein Produktionszentrum waren, mussten sie sich um ihre eigenen, inländischen Kunden kümmern. Das spiegelte sich im Verhalten der Unternehmer wider. Henry Ford bspw. erhöhte die Löhne seiner Angestellten, damit sie seine Autos kaufen konnten. Wenn man sich jedoch auf eine internationale Plutonomie, wie Banken es gerne nennen, zubewegt, bedeutet das, dass ein kleiner Prozentsatz der Weltbevölkerung zunehmenden Reichtum anhäuft und der eigene, amerikanische Verbraucher weit weniger wichtig wird, denn die meisten von ihnen konsumieren die Produkte zumindest nicht so, dass es ins Gewicht fällt. Das Ziel war lediglich, Gewinne im nächsten Quartal zu generieren, selbst wenn es sich auf Finanzmanipulationen und –tricks stützt. Produziert wird für die wohlhabenden Schichten in den USA und vor allem im Ausland. Was ist mit dem Rest?

Nun, auch für sie beginnt sich ein Begriff herauszukristallisieren: Sie werden das Prekariat oder prekäres Proletariat genannt. Das ist ausschließlich die arbeitende Weltbevölkerung, die unter zunehmend prekären Bedingungen lebt. Das hängt auch von der eigenen Einstellung dem eigenen Land gegenüber. Während der Zeit des starken Wirtschaftswachstums in den 1950. und 60. Jahre, aber eigentlich schon früher, lag die Steuerbelastung für die Reichen wesentlich höher. Die Unternehmenssteuern waren höher, die Dividendensteuern waren höher. Wohlstand wurde schlicht und einfach stärker besteuert!

In der 1970., in der Nixon Administration, wurde das Steuersystem neu geordnet, so dass die Steuern der sehr Wohlhabenden reduziert wurden und die Steuerlast für den Rest der Bevölkerung dementsprechend erhöht. Die Steuerlast wurde allein auf Löhne und Verbrauch verlagert und nicht etwa auf Dividenden aus Kapitalvermögen und -gewinn. Die Steuerneuregulierung betraf vor allem 80% der Bevölkerung.

Für die Neuregelung der Steuern gab es einen Vorwand. Den gibt es natürlich immer. In diesem Fall lautete der Vorwand: Dies würde für höhere Investitionen und mehr Arbeitsplätze sorgen. Es wurde die Theorie suggeriert, dass die neuen Überschüsse der Reichen von ihnen selbst in die Wirtschaft reinvestiert werden würden. Dafür gibt es bis heute keine belastbaren Belege.

Wenn man höhere Investitionen will, muss man den Armen und den Arbeitern Geld geben, denn sie müssen überleben, also geben sie ihr Geld aus. Das kurbelt die Produktion an, fördert Investitionen, schafft Arbeitsplätze. Wenn man die Ideologie der Wohlhabenden und Reichen vertritt, argumentiert man anders. Manche Argumente sind geradezu absurd. General Electric z.B. zahlt im Grunde keine Steuern, fährt aber enorme Gewinne ein. GE kann ihre Gewinne verschieben oder zurückstellen um nicht Steuern zahlen zu müssen. Solche Aktionen sind weitestgehend bei allen Großunternehmen üblich. Große Konzerne verlagern die Last, die Gesellschaft zu stützen, auf den Rest der Bevölkerung. Für Gewinne gilt der Kapitalismus und für Verluste gilt der Sozialismus und der Steuerzahler übernimmt die Kosten.

 

Demontage von Solidarität

Solidarität ist einigermaßen gefährlich aus Sicht der wirtschaftlichen und politischen Entscheider. Man sollte sich lieber um sich und nicht um andere kümmern. Das unterscheidet sich deutlich von denen, die sie als ihre Helden bezeichnen, wie Adam Smith, der seine gesamte Wirtschaftsstrategie auf den Grundsatz des Mitgefühls als elementaren menschlichen Wesenszug stützte. Dies musste man aus den Köpfen der Menschen vertreiben. Man musste wieder sich selbst der Nächste sein, man musste wieder der widerwärtigen Maxime folgen „Jeder ist sich selbst der Nächste“, was für die Reichen schön und gut ist, für alle anderen aber verheerend.

Es kostete große Mühen, den Menschen diese elementaren menschlichen Gefühle wieder auszutreiben. Heute sieht man es sehr gut in der politischen Gestaltung und im Angriff auf die soziale Sicherung, die auf dem Grundsatz von Solidarität basiert. Solidarität ist die Sorge um andere. Soziale Sicherung bedeutet, Steuern zu zahlen, damit eine Witwe oder sonst Alleinstehende am anderen Ende der Stadt etwas bekommt, von dem sie leben kann. In Deutschland leben z.Zt. 12,5Mio. Menschen in oder an der Armutsgrenze. In den USA sind es inzwischen 50 bis 60Mio. Menschen.

Reiche Menschen haben aber nichts von der sozialen Solidarität. Sie bemühen sich das zu zerstören, was ihnen nicht nützt. Eine der Möglichkeiten ist, der Solidarität die Finanzierung zu entziehen. Die Privatisierung ist die Standardmethode schlechthin um ein auf Solidarität basierendes System zu zerstören. Das sehen wir insbesondere im Angriff auf öffentliche Schulen, denn sie werden von der Solidarität getragen.

Meine Kinder sind erwachsen, brauchen keine Schule mehr. Aber der Gedanke der Solidarität zwingt mich moralisch dazu Steuern zu zahlen, damit die Kinder meines Nachbarn in den unschätzbaren Genuss von Bildung kommen. Dieses zutiefst menschliche Gefühl muss man den Leuten austreiben: „Ich habe keine Kinder, warum soll ich Steuern zahlen? Die Schulen müssen privatisiert werden.“. Das staatliche Bildungssystem, vom Kindergarten bis zur Hochschule und eines der vergangenen Glanzlichter der amerikanischen Gesellschaft, steht in den USA sehr stark unter Beschuss.

Gehen wir nochmal zurück ins Goldene Zeitalter, die Zeit des größten Wirtschaftswachstums, zeigt sich, dass sich vieles auf die kostenlose staatliche Bildung gründete. Eine der Folgen des 2. Weltkrieges war das Wiedereingliederungsgesetz, das Veteranen ermöglichte die Hochschule zu besuchen. Sie bekamen auf diese Weise eine kostenlose Ausbildung, was sonst unmöglich wäre. Wann immer eine Gemeinschaft, ein Staat oder eine Nation den Mut hat, einen großen Anteil Finanzmittel in die Bildung zu investieren, ist das Ergebnis ausnahmslos ein höherer Lebensstandard. In der Entwicklung umfangreicher staatlicher Bildung für die breite Masse, hatten die USA einen großen Vorsprung.

Heute hingegen werden die Colleges in mehr als die Hälfte der Bundestaaten größtenteils über ziemlich hohe Studiengebühren finanziert. Das ist eine drastische Veränderung und eine immense Belastung für die Studierenden, die, sofern sie nicht aus wohlhabenden Familien stammen, am Ende ihres Studiums auf einem riesigen Schuldenberg sitzen, wenn sie pro Semester im Durchschnitt an die 30.000 US$ brauchen. Wenn man große Schulden hat, ist man in einem System gefangen. Um die Schulden zurückzahlen zu können, arbeitet die jungen und noch beruflich unerfahrenen Absolventen in der Regel für Konzerne. Und wenn man einmal dazugehört, kommt man nicht so leicht wieder da heraus. Das gilt für alle Bereiche.

Die amerikanische Gesellschaft in den 1950. Jahren war insgesamt viel ärmer als die heutige, konnte aber problemlos kostenlose Bildung für die breite Masse finanzieren. Heute gibt eine viel reichere Gesellschaft vor, dafür keine Mittel mehr zu haben. Das geschieht direkt vor unseren Augen und ist ein Pauschalangriff auf wichtige soziale Prinzipien, die nicht nur human sind, sondern das Fundament des Wohlstandes und Prosperität, der physischen und seelischen Gesundheit einer Gesellschaft darstellen. Auch in der BRD wurde ein ähnliches Experiment, mit weit geringeren ökonomischen Folgen für die Studierenden, versucht mit dem Ergebnis, dass es sehr schnell wieder beendet wurde!

 

Steuerung der Bevölkerung

Betrachtet man die Geschichte der Regulierung, z.B. des Eisenbahn- oder des Finanzwesens, stellt man fest, dass sie sehr häufig von den wirtschaftlichen Konzentrationen, die reguliert werden sollten, initiiert oder von ihnen unterstützt wurde und zwar deswegen, weil sie wussten und wissen, dass sie über kurz oder lang die Regulatoren übernehmen konnten und weiterhin können. Die Folge ist dann die sogenannte „Vereinnahmung des Regulierungsakteurs“. Das zu regulierende Unternehmen kontrolliert de facto die Regulatoren.

Die Bankenlobby verfasst die Gesetze zur Finanzregulierung oder nimmt zumindest entscheidenden Einfluss auf ihre Formulierung. Es zieht sich durch die gesamte Geschichte und es ist ein ziemlich natürlicher Impuls, wenn man die Machtverteilung betrachtet. In den 1970. Jahren nahmen unter anderem die unternehmerischen Interessenvertretungen (Lobbys) in den USA stark zu, als die Geschäftswelt versuchte die Gesetzgebung zu steuern. Die Unternehmer waren wegen der Fortschritte in der Sozialführsorge in den 1960. Jahren sehr gegen Richard Nixon aufgebracht. Es ist ein wenig schwer zu verstehen, aber Nixon war der letzte New Deal Präsident und das wurde als Verrat angesehen.

Die Regierung Nixon führte den Verbraucherschutz und die Arbeitsschutzbestimmungen ein und gründete die Umweltschutzbehörde. Den Unternehmen gefielen weder die Regulierungen als solche noch natürlich die daraus resultierenden höheren Steuern. Sie versuchten mit einem koordinierten Einsatz, sich dem Ganzen zu entziehen: der Lobbyismus nahm deutlich zu und die Regulierung des New Deal ab.

Im Zuge seiner Abwicklung, unter dem Druck von Unternehmern und Politik, entwickelten sich mehr und mehr Krisen. Die erste brach 1967 aus und war der Prolog zur großen Krise von 1974. Ab da verging kein Jahrzehnt ohne weltweite Verwerfungen. In den 1980. Jahren wurde es dann sehr ernst. Der Kongress wurde z.B. aufgefordert, Bundesbürgschaften von mehreren Mrd. US$ für Automobilfirmen zu genehmigen. Es ist alles sehr sicher, solange man weiß, dass der Staat einem zu Hilfe kommt, anstatt sie selbst die Kosten tragen zu lassen, die sie auch selbst verursacht haben. Der Höhepunkt dieses Ausverkaufs begann mit der Reagan Administration. Reagan rettete Banken, wie die Continental Illinois und beendete mit einer riesigen Finanzkrise (Saving and Loan Krise) seine Amtszeit und die Regierung eilte zur Rettung.

1999 wurde jedwede Regulierung (z.B. das Glass-Stiegel Act) abgebaut, die verhindern sollte, Handelsbanken und Investmentbanken zusammenzuführen. Darauf folgten die Bankenrettungen von Bush und Obama. Jedes Mal wird der Steuerzahler aufgefordert, die Verursacher der Krise zu retten, in zunehmendem Maße die großen Finanzinstitute. In einer rein kapitalistischen Gesellschaft würde man das nicht tun. In einem kapitalistischen System würde eine derartig scharfe Krise die Investoren ruinieren, die riskante Investments tätigen. Aber die Reichen und Mächtigen wollen kein rein kapitalistisches System. Sie wollen zum überfürsorglichen Staat rennen können, sobald sie in Schwierigkeiten stecken und sich vom Steuerzahler retten lassen. In einem solchen Fall betitelt man solche Unternehmen mit „too big to fail“ (zu groß um zu scheitern). Die nächste Krise ist schon in Sichtweite!

Namhafte Nobelpreisträger wie Joe Stiglitz, Paul Krugmann und weitere Fachleute für Wirtschaftswissenschaften, widersprechen vehement dem Kurs, dem wir folgen. Sie wurden nicht einmal nach ihrer Meinung gefragt! Die Menschen, die die Krise lösen sollten, waren die, die sie verursacht hatten, die Leute um Robert Rubin und Goldman Sachs. Sie haben die Krise verursacht und sind jetzt mächtiger als zuvor. Für die Armen gelten unterdessen die marktwirtschaftlichen Grundsätze. Mit der Hilfe der Regierung brauchen sie nicht zu rechnen.

 

Wahlbeeinflussung

Die Konzentration von Wohlstand und Reichtum ergibt auch eine Konzentration politischer Macht, besonders, weil die US-Amerikanischen Wahlkampfkosten explodieren und die politischen Parteien in die Taschen großer Unternehmen zwingt. Die sehr wichtige Entscheidung „Citizens United“ des obersten amerikanischen Gerichtshofs, im Januar 2009, hat eine Geschichte und über die muss man nachdenken.

Der 14. Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung beinhaltet eine Klausel, die besagt, dass die Rechte eines Menschen, ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren, unantastbar sind. Der Sinn dahinter war eindeutig: Freigelassene Sklaven sollten geschützt werden. Sie wurden durch den 14. Zusatzartikel gesetzlich geschützt. Diese Klausel wurde nicht mehr als marginal auf Sklaven angewandt. Aber dafür wurde sie unmittelbar auf Unternehmen und Konzerne angewandt. Ihre Rechte sind ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren unantastbar. Somit wurden Unternehmen allmählich zu juristischen Personen.

Konzerne sind vom Staat geschaffene juristische Erfindungen. Vielleicht ist das gut, vielleicht schlecht, sie aber Personen zu nennen ist empörend. Sie bekamen in den Vereinigten Staaten vor etwa einem Jahrhundert Persönlichkeitsrechte und das setzte sich durch das 20. Jahrhundert fort. Konzerne bekamen Rechte, die weit über die Rechte hinausgingen, die Menschen hatten. Wenn zum Beispiel, um bei denselben Megakonzernen zu bleiben, General Motors oder General Electric in Mexiko investiert, bekommen sie nationale Rechte, die Rechte mexikanischer Unternehmen.

Während das Konzept der Person auf Konzerne ausgeweitet wurde, wurde es auch eingeschränkt. Wenn man den 14. Zusatzartikel wörtlich nimmt, können die Rechte eines illegalen Einwanderers nicht abgesprochen werden, wenn er eine juristische Person ist, wie ein Unternehmen wie General Motors. Illegale Einwanderer, die in den USA leben, die ihre Häuser bauen, ihren Rasen mähen, konsumieren, Steuer zahlen, ihre Kinder zur Schule schicken etc., sind keine juristischen Personen…aber General Electric schon. Eine unsterbliche, übermächtige Person! Diese Perversion der elementaren Moralität und der offenkundigen Bedeutung des Rechts ist unfassbar.

In den 1970. Jahren entschieden die Gerichte mehrmals, dass Geld eine Form von Sprache ist. Dann geht man ein paar Jahre weiter bis zum Fall „Citizens United“, wo höchstrichterlich entschieden wurde, dass das Recht von Konzernen auf freie Meinungsäußerung, z.B. soviel Geld auszugeben, wie man will, nicht eingeschränkt werden kann. Das bedeutet, dass Konzerne, die sowieso die Wahlen so gut wie gekauft haben, dies nun per Gesetz auch dürfen, ohne nennenswerte Einschränkungen. Das ist ein ungeheuerlicher Angriff auf den Rest der Demokratie und eine unfassbare gesellschaftspolitische Entscheidung. Sie versetzt das Land in eine Lage, in der die Macht der Unternehmen weit über das hinausgeht, was bis dahin war. Es ist zu beachten, dass die Richter am Obersten Gerichtshof der USA von dem jeweiligen Präsidenten ernannt werden!

 

Kontrolle der Massen

Es existiert eine organisierte Kraft, mit vielen Schwachstellen sicherlich, die trotz all ihrer Mängel an vorderster Front dafür kämpft und sich bemüht, das Leben der breiten Bevölkerung zu verbessern: Die organisierte Arbeitnehmerschaft. Sie stellt eine Barriere zur Tyrannei der Konzerne dar. Vor diesem Hintergrund sind die Freihandelsverträge der neuen Art und Qualität, CETA/TTIP/TiSA nicht als klassische Verträge unter Handelspartnern zu verstehen, sondern als politische Knebelung und Werkzeuge einer neuen Form des Governance. Wir haben also nur noch dieses eine Hindernis in diesem Teufelskreis, der zur Plutokratie der Konzerne führt.

Ein Hauptgrund für den konzentrierten, progressiven Angriff auf die amerikanischen Gewerkschaften der 1970. Jahre ist die demokratisierende Kraft der organisierten Arbeiterschaft. Sie behindert, weil sie Arbeitnehmerrechte schützt, aber auch ganz allgemeine Bürgerrechte. Das gefährdet die Privilegien und stört die Macht jener, die die Gesellschaft besitzen und führen. Die Stimmung gegen die Gewerkschaften ist bei den Eliten der Vereinigten Staaten so stark ausgebildet, dass der wesentliche Kern der von der UNO formulierten Arbeitnehmerrechte, wie das Recht auf Vereinigungsfreiheit, soll heißen das Recht Gewerkschaften zu gründen, von den USA nie ratifiziert wurde. Es gilt als so weit außerhalb des Spektrums amerikanischer Politik, dass es buchstäblich nie in Betracht gezogen wurde.

Die USA, muss man dabei bedenken, haben eine gewalttätigere Arbeitsrechtsgeschichte, oder präziser gesagt, Gewerkschaftsgeschichte im Vergleich zu anderen Gesellschaften, bspw. in Europa. Aber die Arbeiterbewegung war sehr stark. Bis in die 1920. Jahre, die unseren Tagen nicht unähnliche waren, war sie praktisch am Boden. Streiks endeten nicht selten in schwere Krawalle mit vielen Verletzten und Toten. In den Straßen der Städte herrschte offener Krieg zwischen Arbeitern und der Polizei, die sich nicht anders sahen, als die Beschützer der Gelbesitzer.

Mitte der 1930. Jahre begannen die Gewerkschaften, sich neu zu bilden. Franklin Delano Roosevelt war ein Verfechter fortschrittlicher Gesetzgebung, von der die allgemeine Bevölkerung profitieren würde. Aber er musste sie auch verabschieden können! Also ließ er Arbeiterführer wissen, dass sie Druck ausüben mussten. Er meinte damit, sie sollten demonstrieren und sich organisieren, protestieren, streiken und die Arbeiterbewegung weiterentwickeln. Wenn der Druck der Allgemeinheit groß genug wurde, konnte er die entsprechenden Gesetze durchbringen, die die Arbeitnehmerrechte schützten. Roosevelt: „Ich bin nicht für eine Rückkehr zu dieser Definition von Freiheit, unter der viele Jahre lang ein freies Volk nach und nach in den Dienst einiger weniger Privilegierter gedrängt wurde. Ich ziehe die weiter gefasste Definition von Freiheit vor.“

Es gab demnach Mitte der 1930. Jahren eine Kombination aus einer wohlwollenden Regierung und einem sehr umfangreichen Aktivismus durch die Bevölkerung. Es gab Arbeitskampfmaßnahmen, Sitzstreiks, die für die Geschäftsinhaber sehr beängstigend waren. Man muss erkennen, dass man durch einen Sitzstreik nur einen Schritt davon entfernt war zu sagen: „Wir brauchen keine Vorgesetzten, wir können das selber machen.“.

Die Geschäftswelt war entsetzt. In der Wirtschaftspresse der damaligen Zeit konnte man lesen, dass über die „Gefahr für Industrielle“ und die „zunehmende politische Macht der Massen“ geschrieben wurde, die unterdrückt werden musste. Madisons Gespenst wurde reanimiert. Während des 2. Weltkrieges lag das alles auf Eis, aber direkt danach, begann die Offensive der Unternehmer mit vollstem Einsatz: Zitat aus der McCarthy Ära: „Das Taft-Hartley-Gesetz wurde einzig und allein zum Zweck der Wiederherstellung von Gerechtigkeit und Gleichheit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verfasst“. Die Praktiken der McCarthy Ära wurden für massive Propaganda-Offensiven gegen die Gewerkschaften genutzt. Während der Reagan-Jahre steigerte sich das noch erheblich. Reagan ließ der Geschäftswelt gegenüber ziemlich deutlich durchblicken: „Wenn ihr Gewerkschaften und Streiks illegal stoppen wollt, bitte sehr!“. Zitat: „Sie (die Streikenden) brechen das Gesetz und wenn sie nicht innerhalb von 48 Stunden zur Arbeit erscheinen, haben sie den Anspruch auf ihre Jobs verwirkt und werden gekündigt.“. Das kommt davon, wenn eine präsidiale Marionette schauspielerisch ausgebildet ist.

So ging es in den 1990. Jahren weiter und nahm unter George W. Busch enorm zu. Heute sind in den USA weniger als 7% der Arbeiter im privaten Sektor gewerkschaftlich organisiert. 1970 waren es 25-30%. Das Resultat war, dass sich die übliche Gegenkraft, die auf eine Offensive der extrem standesbewussten amerikanischen Unternehmerschicht folgte, auflöste. Wer sich in einer Machtposition befindet, möchte das Standesbewusstsein für sich selbst bewahren, aber überall sonst eliminieren.

Wenn man ins 19. Jahrhundert zu den Anfängen der industriellen Revolution in den Vereinigten Staaten zurückgeht, war die arbeitende Bevölkerung durchaus selbstbewusst. Tatsächlich betrachtete die Mehrheit, Lohnarbeit als nicht viel anders als Sklavenarbeit, aber etwas anders weil sie temporärer Natur war. Diese Vorstellung (Lohnarbeit=Sklavenarbeit) war sogar so weit verbreitet, dass sie zum Slogan für die Republikanische Partei wurde.

Im Interesse von Macht und Privilegien, ist es gut, diese Vorstellungen aus den Köpfen der Menschen zu verbannen. Sie sollten nicht wissen oder merken, dass sie eine unterdrückte Schicht sind. Die wirtschaftlich privilegierte Schicht, ist eine der wenigen Gesellschaften, in denen man nicht über Schichten spricht. Das Konzept der Schicht ist eigentlich sehr einfach. Wer gibt Befehle und wer befolgt sie? Im Grunde definiert diese Frage den Kern des Begriffes „Schicht“. Es ist natürlich nuancierter und technisch komplexer, aber genau genommen trifft es des Pudels Kern.

 

Zustimmung

Die Arbeit der PR-Branche und der Werbebranche, deren Ziel es ist, Bedarfe zu wecken um Verbraucher zu schaffen – ein Phänomen, das sich in dem Land mit der größten Freiheit entwickelt hat -, ist ziemlich einleuchtend. Vor etwa einem Jahrhundert wurde deutlich, dass es nicht so leicht sein würde, das Volk mit Gewalt zu kontrollieren. Es wurde zu viel Freiheit erstritten und sie wurde auch verteidigt: Gewerkschaften, parlamentarische Arbeiterparteien, das Frauenwahlrecht usw.

Man brauchte andere Methoden, um die Menschen zu kontrollieren. Es war klar und es wurde so auch formuliert, dass man sie über ihre Überzeugungen und Einstellungen kontrollieren muss. Dazu bedienten sich die Eliten insbesondere der Schulen, der Literatur, der Kinofilme und seit den 1950. Jahren des neuen Mediums Fernsehen. Am besten lassen sich Menschen in Bezug auf ihre Einstellungen durch das kontrollieren, was der Ökonom Thorstein Veblen „Verbraucher erzeugen“ nannte.

Wenn man Bedürfnisse erzeugen kann, den Erwerb von Waren, die gerade noch in ökonomischer Reichweite liegen, zum Lebensinhalt macht, werden Menschen zwangsläufig zu Konsumenten ohne sich über die Manipulationsgefahr Gedanken zu machen. Die Bosse von Silikon-Valey erlauben ihren Kindern kein Smartphone, Tablet und Co., denn sie sind sich der Gefahr der geistigen und sozialen Degeneration durchaus bewusst. Den Prekariatmassen jedoch werden diese Produkte wärmstens empfohlen.

Die Wirtschaftspresse um 1920 schrieb über die Notwendigkeit, Menschen zum Oberflächlichen hinzuführen, in eine Art „modernen Konsum“, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen. Diese Lehre findet man überall unter fortschrittlich denkenden Intellektuellen, wie z.B. Walter Lippmann, einer der führenden progressiven Intellektuellen des 20. Jh. Er schrieb berühmte Essays über Demokratie (Society in its Place), die die Ansicht vertraten: „Man muss das Volk in seine Schranken weisen.“ Damit verantwortungsbewusste Männer Entscheidungen treffen können, ohne von der „verwirrten Herde“ gestört zu werden. Sie sollen Zuschauer sein, keine Mitwirkenden. So bekommt man eine ordentlich funktionierende Demokratie, womit wir wieder bei Madisons und Powells Memorandum wären. Die PR-Branche explodierte förmlich mit diesem Ziel, Konsumenten zu erzeugen.

Was wir heute erleben, ist tatsächlich das Ideal. Wenn sich junge Menschen den Nachmittag frei nehmen, gehen sie schoppen. Sie gehen nicht etwa in die Bücherei. Das erklärte Ideal ist, die gesamte Gesellschaft zu einem perfekten System von prekär arbeitenden Konsumenten zu machen, deren einziges Ziel sein soll, nichts vom New Brave World zu verpassen.  Das perfekte System wäre eine Gesellschaft, die auf einer Zweiergruppe basiert: Der Mensch und sein Fernseher oder der Mensch und sein Internet, in dem ihnen gezeigt wird, wie das Leben sein sollte, welche Waren man besitzen sollte. Diese Manipulation zwingt den Menschen geradezu, Dinge besitzen zu wollen, Dinge besitzen zu müssen, die man nicht braucht, nicht will. Es wird suggeriert, dass diese angepriesenen Waren ein entscheidender Teil des Maßstabs eines guten Lebens sind.

Die Wirtschaftswissenschaft lehrt, dass nur informierte Verbraucher vernünftige Entscheidungen treffen. Sinn und Zweck der Produktwerbung ist aber, uninformierte und demnach uniformierte Verbraucher zu erzeugen, die unvernünftige Entscheidungen treffen. Darum geht es in der Werbung. Und wenn dieselbe Institution, das PR-System, Wahlen leitet und im eigenen Sinne manipuliert, machen sie es genauso, wie mit der Produktwerbung. Sie erzeugen eine uninformierte und somit uniformierte Wählerschaft, der Demokratie und Wahlmöglichkeit suggeriert wird, die unvernünftige Entscheidungen trifft, oftmals leider gegen ihre eigenen Interessen. Wir erleben es jedes Mal, wenn eines dieser Wahl Spektakel stattfindet. Bezeichnend ist der Fakt, dass direkt nach seiner Wahl, Präsident Obama ein Preis für die beste Marketing-Kampagne von der PR-Branche verliehen wurde. Die Politik konzentriert sich immer stärker auf die privaten Interessen, die die Wahlkampagnen finanzieren und die Öffentlichkeit wird an den existentiellen Rand gedrängt.

 

Das Volk ins Abseits

Martin Gilens, ein führender Politologe, veröffentlichte eine Studie über die Beziehung zwischen öffentlicher Einstellung und öffentlicher Politik. Er zeigte auf, dass etwa 70% der Bevölkerung keine Möglichkeit haben, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Sie könnten genauso in jedem anderen Land leben. Das politische Establishment sei schuld, dass die amerikanische Bevölkerung wütend und frustriert ist und staatliche Institutionen verabscheut. Die Bevölkerung reagiert irrational und destruktiv. Die Bevölkerung wird zunehmen aktiv und mobilisiert Bewegungen über Bürgerinitiativen, aber auf sehr selbstzerstörerische Weise. Sie implementiert Formen unspezifischen Wutes, greifen verwundbare Ziele und sich gegenseitig an. Dadurch werden soziale Beziehungen zerstört.

Aber genau das ist ja das Ziel der Eliten: Menschen dazu zu bringen einander zu hassen, zu fürchten, sich nur um sich selbst kümmern und ihre soziale Verantwortung verleugnen. Deutlich zu sehen ist das am 15. April jeden Jahres. Der 15. April ist der Tag, an dem jeder seine Steuern bezahlt. Dieser Tag ist eine Art Maßstab für den Grad der Demokratie der amerikanischen Gesellschaft. Ist eine Gesellschaft wahrhaft demokratisch, wäre der 15. April ein Feiertag, ein Tag, an dem die Bevölkerung zusammenkommt und beschließt, die Programme und Aktivitäten zu finanzieren, auf die man sich geeinigt hat. Was könnte schöner sein als das? Also sollte man es feiern. So ist es aber nicht in den USA oder sonst irgendwo. Es ist mehr ein Tag der Trauer. Es ist der Tag, an dem eine fremde Macht, die nichts mit dem Volk zu tun hat, herabsteigt, um ihnen ihr sauer verdientes Geld wegzunehmen. Sie tun alles in ihre Macht Stehende, um das zu verhindern. Das ist eine Art Maßstab für das Ausmaß, in dem, zumindest im Bewusstsein der Bevölkerung, Demokratie tatsächlich funktioniert.

Die sich entwickelnden egozentrischen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft Amerikas, werden sie zu einer außerordentlich hässlichen Gesellschaft machen und einen Return verunmöglichen, wenn sich eine Gesellschaft auf die Maxime stütz „Alles für mich, nichts für andere“, eine Gesellschaft, aus der humane Instinkte und Gefühle, wie Mitgefühl, Solidarität und gegenseitige Unterstützung vertrieben wurden. Ich will gar nicht wissen, wer freiwillig in einer solch inhumanen, selbstzerstörerischen Gesellschaft leben wollte!

Wenn eine Gesellschaft auf die Kontrolle durch privaten Reichtum basiert, stützt sie sich auf Gier und den Wunsch, den persönlichen Gewinn auf Kosten anderer zu maximieren. Jede Gesellschaft, die auf diesem Prinzip basiert, ist hässlich, kann aber überleben. Eine globale Gesellschaft, die darauf basiert, ist der massiven Ausbeutung und Zerstörung ausgeliefert. Ich glaube, wir sind nicht klug genug für die detaillierte Gestaltung einer vollkommen gerechten und freien Gesellschaft. Man könnte aber durchaus Richtlinien vorgeben und, noch wichtiger, wir können fragen, wie wir in diese Richtung gehen können.

John Dewey, der führende amerikanische Sozialphilosoph des späten 20. Jahrhunderts, behauptete, erst wenn alle Institutionen, Produktionen, Handel und Medien unter partizipatorischer, demokratischer Kontrolle sind, werden wir eine funktionierende demokratische Gesellschaft haben. Im Grunde ist das richtig und gar nicht so utopisch, wie es anmutet. Wo es Strukturen von Autorität, Herrschaft und Hierarchie gibt – jemand befiehlt und jemand führt aus – sind sie nicht automatisch legitimiert. Sie müssen selbst für die Legitimation sorgen. Wenn man genau hinsieht stellt man fest, dass sie sich nicht selbst legitimieren können. Wenn sie es nicht können, sollten wir sie abschaffen und versuchen, den Bereich von Freiheit und Gerechtigkeit zu erweitern, indem diese Form der unrechtmäßigen Autorität aufgelöst wird.

Die freie Meinungsäußerung, zum Beispiel, ist eine der echten fortschrittlichen Errungenschaften der amerikanischen Gesellschaft. Sie war weltweit die Erste, die das erreicht hat. Sie steht nicht in den Grundrechten, sie steht nicht in der Verfassung. Die Frage nach der freien Meinungsäußerung kam in den Obersten Gerichtshof der USA Anfang des 20. Jahrhunderts und die wichtigen Beiträge entwickelten sich in den 1960. Jahren. Eine davon war ein Fall, bei dem es um die Bürgerrechtsbewegung ging. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits eine Massenbewegung der Bevölkerung, die Rechte forderten und sich weigerten einzulenken. In diesem Zusammenhang setzte der Oberste Gerichtshof einen recht hohen Standard für die freie Meinungsäußerung fest. Oder nehmen wir die Frauenrechte. Auch Frauen begannen unterdrückende Strukturen zu identifizieren, weigerten sich, diese zu akzeptieren und brachten weitere Menschen auf ihre Seite.

Ich glaube, wir können sehr deutlich einige sehr gravierende Fehler und Mängel in unserer Gesellschaft erkennen, in unserem kulturellen Niveau und unseren Institutionen, die dringend korrigiert werden müssen, indem wir außerhalb des allgemein akzeptierten Rahmens, soll heißen außerparlamentarisch operieren und die politische Bildung unterstützen. Wir werden neue Wege politischen Handelns finden müssen. Man kann viel erreichen, wenn die Menschen zusammenkommen, für ihre Rechte und für ihre Würde kämpfen, wie sie es in der Vergangenheit taten. Nur ist der Kampf heute unlängst schwieriger, denn früher galt es gegen Gewalt und Ausbeutung aufzubegehren, sie war sichtbar und unmittelbar. Heute ist sie feiner, unterschwelliger, gemeiner und totaler!

 

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