20 Dez 2018

Die Arbeitsmärkte waren in Deutschland noch nie in einem so schlechten Zustand

Prof. Dr. Heinz‐J. Bontrup im Gespräch mit TELEPOLIS, über geschönte Arbeitslosenzahlen, die Folgen der Digitalisierung und ein bedingungsloses Grundeinkommen

Herr Bontrup, „Es läuft Deutschland nähert sich der Vollbeschäftigung“ textete die Frankfurter Allgemeine noch im Juni 2018. Und Sie werden seit Jahren nicht müde, von Massenarbeitslosigkeit zu sprechen. Können Sie diesen Widerspruch aufklären?

Nur Demagogen und Populisten reden von einer fast erreichten Vollbeschäftigung. Mit der Realität hat das leider nichts zu tun. Wir haben weiter Massenarbeitslosigkeit im Land und ich gehe noch weiter: Die Arbeitsmärkte waren in Deutschland, zählt man das gesamte Prekariat der Teilzeit‐ und geringfügig Beschäftigten, die befristet Beschäftigten, die Praktikantenverträge und die Leiharbeiter dazu, noch nie in einem so schlechten Zustand. Die registrierten Arbeitslosenzahlen sind zwar zurückgegangen und die Erwerbsarbeit hat zugelegt. Immer liegt aber die registrierte Arbeitslosenzahl noch bei gut 2 Millionen Menschen. Hinzu kommt fast eine Million statistisch wegdefinierte Arbeitslosigkeit. Die Bundesagentur für Arbeit spricht hier mystifizierend von einer Unterbeschäftigung. Menschen, die sich als Arbeitslose krankgemeldet haben oder sich als Arbeitslose in Weiterbildungsmaßnahmen befinden oder Ein‐Euro‐Jobber und andere, tauchen in Folge bei den registrierten Arbeitslosen nicht auf. Es hat von der Politik seit Mitte der 1980er Jahre 17 gesetzliche Definitionsveränderungen im Hinblick auf Arbeitslosigkeit gegeben. Immer ging es der Politik dabei nur um Schönrechnerei, um die Arbeitslosenzahlen künstlich klein zu rechnen.

Die digitale Revolution liefert aktuell eine Disruption nach der anderen. Spätestens seit dem Oxford‐Paper „The Future of Employment: How Susceptible are Jobs to Computerisation?“  von Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne aus dem Jahr 2013 verlagert sich die Debatte um die Digitale Revolution hin zu einer erwarteten massiven Arbeitsplatzvernichtung. Diese Debatte wird zudem nicht unwesentlich aus dem Silicon Valley angetrieben. Es wird als Segen und Fluch prophezeit, dass Robotik, Automatisierung und künstliche Intelligenz vielen Erwerbstätigkeiten den Garaus machen werden, dass unangenehme, z.B. körperlich schwere Arbeiten, automatisiert, aber auch dass viele Kopfarbeitstätigkeiten mit Routinen wie z.B. Steuerberatung der Automatisierung sowie einer entsprechenden Künstlichen Intelligenz KI﴿ zum Opfer fallen werden.

Für Karl Marx ist in keiner anderen Ordnung der technische Fortschritt so stark ausgeprägt worden wie im Kapitalismus. Er erwähnt dabei auch die historischen Leistungen der Erfinder, aber natürlich auch die „Sucht nach steigendem Profit“ als das bewegende kapitalistisch inhärente Motiv. Jetzt stehen wir vor der vierten technischen Revolution, einer zunehmenden Digitalisierung. Natürlich wird auch sie, wie alle anderen zuvor, die Arbeitswelt insgesamt massiv verändern. Ob es im Saldo, und nur der ist entscheidend, zu einer gravierenden Arbeitsplatzvernichtung kommt, kann ich nicht sagen. Und denen, die das angeblich können, spreche ich jede Seriosität ab. Was bei der ganzen Debatte aber viel wichtiger ist, darüber schweigt man sich weitgehend aus. Nämlich, wer erhält die aus der Digitalisierung mit Sicherheit erwachsenen Produktivitätsgewinne? Wenn diese überwiegend bei den Kapitaleignern landen, dann wird es ökonomisch und in Folge gesellschaftlich‐politisch mehr als problematisch. Kommt es dagegen einigermaßen zu einer Gleichverteilung der Digitalisierungsdividenden zwischen Kapital und Arbeit, dann sehe ich mehr Vorteile als Nachteile. Was nicht heißt, dass damit mehr oder weniger starke friktionelle Anpassungsprobleme verbunden sein werden.

„Kein Mangel an Fachkräften, sondern an Zahlungsbereitschaft“

Parallel zur Vollbeschäftigung wird vieler Orten und in einigen Branchen von Fachkräftemangel gesprochen.

Einen flächendeckenden Fachkräftemangel gibt es in Deutschland nicht. Das auf Teilarbeitsmärkten oder auch auf regionalen Arbeitsmärkten Verknappungen auftreten können, ist eine ökonomisch allenfalls triviale Feststellung. So kann es beispielsweise auf dem Teilarbeitsmarkt der Chirurgen zu wenige Ärzte geben und gleichzeitig gibt es zu viele HNO‐Ärzte. Verknappungen auf Teilarbeitsmärkten widersprechen auch keiner insgesamt in einer Volkswirtschaft vorliegenden Massenarbeitslosigkeit. Eine jüngst veröffentlichte Studie des Wirtschafts‐ und Sozialwissenschaftlichen Instituts ﴾WSI﴿ kommt zu dem Befund, dass insbesondere die Klagen der Unternehmerverbände widersprüchlich und deutlich überhöht sind. Die Klagen sind mehr Ausdruck eines Bestrebens, die Arbeitseinkommen niedrig zu halten. „Ursächlich ist also kein Mangel an Fachkräften, sondern an Zahlungsbereitschaft.“ Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft, Paul Krugman, hat US‐amerikanischen Unternehmern bezüglich ihres Jammerns für fehlende Arbeitskräfte geantwortet: „Zahlen Sie anständig, dann werden Sie auch schnell ihre benötigten Arbeitskräfte finden.“

Die Bundesregierung hat am 19. Dezember ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf den Weg gebracht. Wie bewerten Sie das Abwerben von Fachkräften im Ausland vor dem Hintergrund der innerhalb und außerhalb der EU immer wieder beschworenen Solidarität unter Nationalstaaten als Partnern? Führt sich hier nicht die Funktionslogik des Konstrukts Nationalstaat selbst ad absurdum? Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten, welche möglichen Auswege sehen Sie?

Hochqualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland abzuwerben, führt zu einer Fehlallokation und entspricht in der Tat einem egoistischen nationalstaatlichen Denken. Denn, die Fachkräfte werden vielmehr zum Aufbau in ihren Herkunftsländern gebraucht. Wenn sie dann noch in das Land des Exportweltmeisters Deutschland gelockt werden, ist dies besonders verwerflich und gleichzeitig ökonomisch völlig irrational. Wer bitteschön soll nämlich, bei immer mehr sich in Deutschland verschuldenden Ländern, aus denen die Fachkräfte überwiegend kommen, die deutschen Exporte noch nachfragen bzw. bezahlen? Gleichzeitig geben wir Entwicklungshilfe in die ökonomisch schwachen und ausgebeuteten Länder. Mehr Widerspruch geht nicht.

Die AfD steht wie die CDU für einen marktradikalneoliberalen und asozialen Kurs

Bei der Wahl zum Vorsitz der CDU am 7. Dezember gab es ein „Photofinish“ Prof. Dr. Karl Rudolf Korte﴿ zwischen Annegret KrampKarrenbauer und Friedrich Merz, das „AKK“ für sich entscheiden konnte. Zahlreiche Delegierte der Union freuten sich über ein großartiges Beispiel gelebter Demokratie und feierten das öffentlich. Zwischen was wurde da Ihrer Ansicht nach eigentlich demokratisch entschieden? Was bedeutet diese Wahl für die politische Landschaft in Deutschland und Europa, insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die AfD Herrn Merz eher fürchtete, Frau KrampKarrenbauer aber als Steilvorlage für sich sieht?

Das war eine reine CDU‐interne Wahl. Merz steht für einen radikalen finanzmarktbetriebenen Kapitalismus. Wofür Kramp‐Karrenbauer wirtschaftspolitisch steht, weiß sie wohl so richtig selber nicht. Ich sehe das Ganze mehr parteipolitisch und da beurteile ich die CDU holistisch, wobei ich nicht verhehlen will, dass der Vorsitz schon herausragend ist. Die CDU war schon immer strukturkonservativ und marktgläubig. Unter Kohl und Merkel ist die Partei immer mehr einem Neoliberalismus aufgesessen, der einen Sozialstaat als Störenfried bei der kapitalistischen Ausbeutung von Unternehmern sieht. Hier sei nur noch einmal an die „marktkonforme Demokratie“ von Merkel erinnert. Der Staat, die demokratisch gewählte Politik, soll sich also vor dem Markt bzw. der Wirtschaft verbeugen. Keynesianismus geht dann natürlich gar nicht und folgerichtig wird dieser auch von der CDU vehement abgelehnt. Man setzt dafür lieber auf eine volkswirtschaftlich kontraproduktiv wirkende Schuldenbremse bzw. eine „Schwarze Null“ im Staatsbudget und in der EU auf einen Fiskalpakt.

Es erübrigt sich zu erwähnen, dass die CDU natürlich Steuererhöhungen für Einkommensstarke und Vermögende strikt ablehnt, dafür aber sofort in erster Reihe dabei ist, wenn es darum geht, Gewerkschaften zu schwächen und umzuverteilen: von den Arbeits‐ zu den Mehrwert‐ bzw. Kapitaleinkünften. Hier haben die abhängig Beschäftigten von 1991, seit der Wiedereinigung bis 2017, gut 1,7 Billionen Euro an Einkommen auf Basis der Lohnquote von 1993 verloren. Diese 1,7 Billionen sind mit stark negativen Folgen für die Gesamtwirtschaft bei den Unternehmer‐ und Vermögenseinkommen gelandet. Im Übrigen steht auch die AfD genauso für diesen marktradikal‐neoliberalen und asozialen Kurs. Das hat ihre Wählerschaft aber noch nicht verstanden, was überdeutlich macht, dass der gesellschaftliche Zuspruch für diese Deutsch‐Nationale Partei fast ausschließlich einer Ausländerfeindlichkeit geschuldet ist. Dies verwundert mich aber nicht, weil erstens die meisten Menschen von Ökonomie nichts verstehen und zweitens natürlich immer die ökonomischen Verhältnisse, in denen sich die Menschen reproduzieren müssen, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse determinieren. Über 40 Jahre Massenarbeitslosigkeit in Deutschland, 13,7 Millionen verarmte Bürger*innen, das sind über 16 Prozent der Bevölkerung, und jedes 5. Kind muss in Armut aufwachsen, sprechen hier eine überdeutliche Sprache. Auf der anderen Seite war Deutschland in Summe noch nie so reich wie heute und das Einkommen und Vermögen noch nie so ungleich verteilt.

Kommen wir nun zu allgemeineren Fragen: In Ihrem Werk „Arbeit, Kapital und Staat: Plädoyer für eine demokratische Wirtschaft“ diagnostizieren Sie eine strukturelle und funktionale Asymmetrie zwischen demokratischen Entscheidungen im politischen Raum, Personen und Parteiwahlen sowie Programmentscheidungen einerseits und vorwiegend autokratisch getroffenen Entscheidungen im Wirtschaftsraum, in KMU sowie in Großunternehmen und international operierenden Konzernen andererseits. In der Folge entwickeln Sie ein Konzept für eine Wirtschaftsdemokratie. Einmal abgesehen von den ggf. zu erwartenden positiven Auswirkungen jetzt demokratischer getroffener innerbetrieblicher Entscheidungen auf z.B. das Betriebsklima, inwieweit soll ein solcher demokratisch getroffener betriebswirtschaftlicher Kompromiss volkswirtschaftlich andere Auswirkungen haben, bzw. anders sein als der bislang dominierende gewinnorientierte Egoismus von Einzelpersonen in der Firmenleitung? Können Sie dies näher erläutern?

Zunächst einmal ist es auf gesellschaftlicher Ebene inakzeptabel, dass im Staatssektor eine parlamentarische Demokratie gegeben ist, und im Unterbau der Wirtschaft einseitig nur der Kapitaleigentümer das Sagen hat und hier autokratisch, nicht selten sogar feudalistisch, herrscht. Diese Dichotomie gilt es endlich durch eine Wirtschaftsdemokratie zu beenden. Ich will es mit dem langjährigen 1. Vorsitzenden der IG Metall, Otto Brenner, sagen, der schon 1961 schrieb:

„Der Gedanke der Mitbestimmung bedeutet im Grunde nichts anderes als eine Ausprägung der gewerkschaftlichen Idee der Freiheit. Freiheit ist für uns nicht nur ein politischer Begriff, sondern vor allem auch eine soziale Kategorie. Wir wissen, dass die Freiheit des Menschen außerhalb seines Arbeitslebens nicht vollständig und gesichert ist, solange der Mensch in seinem Arbeitsleben der Herrschaft anderer unterworfen bleibt. Die Demokratisierung des öffentlichen Lebens, das freie Wahl‐, Versammlungs‐ Rede‐ und Presserecht bedarf der Ergänzung durch die Demokratisierung der Wirtschaft, durch Mitbestimmung der arbeitenden Menschen über die Verwendung ihrer Arbeitskraft und der von ihnen geschaffenen Werte. Die Forderung nach Mitbestimmung der arbeitenden Menschen ist historisch entstanden in einer Wirtschaftsordnung, die auf dem privaten Besitz an Produktionsmitteln beruht, auf der Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln und vom Produkt seiner Arbeit und auf der damit gegebenen Bevorzugung der Produktionsmittelbesitzer. Mit anderen Worten: Wir haben es mit einer Wirtschaftsordnung zu tun, in der es keine Freiheit im sozialen Bereich und keine Demokratie im Wirtschaftsleben gibt. Der Gedanke der Mitbestimmung bedeutet nichts anderes als einen Versuch, Freiheit und Demokratie auch im Bereich der Wirtschaft, auch für die Arbeitnehmer zu verwirklichen.“

Natürlich wissen wir, dass Wirtschaftsdemokratie dabei mehr impliziert als nur die einzelwirtschaftliche, die unternehmerische Ebene. Auch darauf bis ich in meinem Buch ausführlich eingegangen. Die Wirtschaft muss natürlich auch auf der Markt‐ und gesamtwirtschaftlichen Ebene einer Demokratisierung unterzogen werden. Hier empfehle ich, mein Buch zu studieren.

Bedingungsloses Grundeinkommen: Luftschlossforderung von naiven Sozialromantikern

Sie sind erklärtermaßen kein Freund des sogenannten bedingungslosen Grundeinkommens BGE, das nach Ansicht seiner Befürworter u.a. einen Ausweg für unsere Sozialsysteme aus der digitalen Technologiefalle bieten soll. Der zurzeit wohl prominenteste Vertreter eines BGE in Deutschland ist der Philosoph Richard David Precht. In seinem Buch, das in Anlehnung an Marx mit „Jäger, Hirten, Kritiker Eine Utopie für die digitale Gesellschaft“ betitelt ist, schlägt er eine Finanzierung des BGE aus einer Finanztransaktionssteuer FTS vor. Neu ist diese Idee zwar nicht, sie wurde bereits Jahre zuvor von Christian Felber sowie in engagierten Debatten innerhalb der Piratenpartei thematisiert. Was spricht Ihrer Ansicht nach dagegen? Und was spricht jenseits aller Finanzierungsfragen grundsätzlich gegen ein BGE? Wie bewerten Sie den Umstand, dass sich Befürworter eines BGE sowohl im linken als auch im rechten und neoliberalen Lager bis hin zu den Libertären Peter Thiel﴿ finden lassen?

Das waren jetzt gleich mehrere Fragen. Lassen Sie mich mit der letzten beginnen. Diese parteiübergreifenden Befürworter haben sämtlich, das gilt aber auch für alle anderen BGE‐Befürworter, entweder nur ganz wenig ökonomischen Sachverstand und/oder wollen wie die professionellen Ökonomen Milton Friedman, James Tobin und Thomas Straubhaar auf Basis einer „negativen Einkommensteuer“ mit einer neoliberalen politischen Intention den Sozialstaat abschaffen. Abgesehen von der Finanzierungsfrage ist ein BGE, wie es Christoph Butterwegge formulierte, „Kommunismus im Kapitalismus“, also ein nicht mehr zu überbietender Widerspruch. Was spricht ökonomisch grundsätzlich dagegen?

Hier wollen die Befürworter, dass Menschen für andere Menschen arbeiten. Hier reichen mir schon die Kapitaleinkommensbezieher. Denn die immer nur zu verteilende Wertschöpfung, bestehend aus Löhnen, Zinsen, Mieten/Pachten und dem Unternehmerprofit, muss ja durch erwerbsmäßige Arbeit zuvor geschaffen worden sein. Und nur bepreiste Arbeit und nicht ehrenamtliche Arbeit oder irgendeine Hausarbeit, die alle keine Preise haben, schafft ein verteilbares Einkommen. Und wenn immer wieder die Befürworter des BGE damit argumentieren, sie würden ja solche nicht bepreiste Arbeit altruistisch für die Gesellschaft verrichten, dann kann man auch an den Weihnachtsmann glauben. Richtig ist dagegen, dass die bepreiste Schwarzarbeit noch massiv zulegen würde. Und noch abschließend ein Wort zur Finanzierung, dann ist zu den dem absurden BGE auch alles gesagt.

In Deutschland lag 2017 das gesamte Volkseinkommen bei 2.434,8 Mrd. Euro. Davon entfielen auf das Arbeitnehmerentgelt 1.668,5 Mrd. Euro. Darin enthalten waren die „Sozialbeiträge der Unternehmer“ in Höhe von 299,7 Milliarden Euro. Rechnet man diese heraus, so bleibt eine Bruttolohn‐ und Gehaltsumme für alle abhängig Beschäftigten, die dafür hart gearbeitet haben, von 1.368,8 Milliarden Euro übrig. Zieht man davon die Sozialbeiträge ﴾238,1 Milliarden Euro﴿ und die Steuern ﴾225,8 Milliarden Euro﴿ ab, ergibt sich die Summe der Nettolöhne und ‐gehälter mit 904,9 Milliarden Euro. Das Arbeitnehmerentgelt pro Kopf und Monat betrug dabei 3.488 Euro, das Bruttoentgelt 2.861 Euro und das Nettoentgelt 1.892 Euro. Wie absurd vor diesem realwirtschaftlichen Hintergrund BGE‐Forderungen von 1.000 Euro netto pro Kopf sind, muss wohl nicht weiter kommentiert werden. Ich kann hier nur von einer Luftschlossforderung von naiven Sozialromantiker*innen sprechen und als Ökonom den Kopf schütteln.

Die Vermögenden müssen endlich adäquat besteuert werden

Eine andere Idee hat der ehemalige griechische Finanzminister und Begründer von DiEM25  Democracy in Europe Movement 2025﴿, Yanis Varoufakis, in die Debatten gebracht, die er ausdrücklich nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zu den Sozialsystemen betrachtet. Sie bezieht sich auf den sogenannten Plattformkapitalismus und geht davon aus, dass es global operierende Konzerne gibt, die ganze Marktplätze kontrollieren und deren Kapital durch die Nutzer generiert wird. Jedes Mal, wenn Nutzer z.B. über Google suchen oder etwas vom Übersetzungsalgorithmus Googles von einer in eine andere Sprache übersetzen lassen, werden die KISysteme von Google trainiert. Nutzeraktionen tragen also etwas zum Kapital von Google bei. Die Gesellschaft profitiert allerdings nicht aus diesen Gewinnen, lediglich die Stakeholder von Google. Varoufakis schlägt nun vor, dass ein Teil der Aktien solcher Konzerne beschlagnahmt und in einen Treuhandfonds für die Gesellschaft überführt werden sollen. Die dort erzielten Dividenden wären also Dividenden für die Gesellschaft. Einmal abgesehen von ihren praktischen Durchsetzungsmöglichkeiten im ganz zwangsläufig internationalen Raum, was ist von einer solchen Idee zu halten?

Es steht außer Frage, dass man die Internet‐Konzerne einer besonderen Besteuerung oder auch einer Beschlagnahmung eines Aktienteils dieser Konzerne unterziehen muss. Hier bin ich ganz bei Varoufakis. Der ehemalige Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland und International, Thilo Bode, spricht hier von einer „Diktatur der Digitalkonzerne“, die schnellstens zu beseitigen ist. Auch dem würde ich mich anschließen. Aber hier versagt leider die herrschende Politik auf ganzer Linie. Nur durch eine international abgestimmte und herbeigeführte politische Aktion ist noch diesen Digitalkonzernen, deren Marktkapitalisierung bei weit über 3 Billionen Euro liegt, beizukommen. Will das aber die mit den Konzernen verbandelte herrschende Politik? Ich fürchte nein.

Sie kritisieren seit Jahren und schon vor Thomas Piketty das immer weiter zunehmende Ungleichgewicht in der Entwicklung von Einkommen und Vermögen und in diesem Zusammenhang auch die galoppierende Zersetzung des Zusammenhalts in unseren Gesellschaften. Unabhängig von einem BGE oder anderen Ideen, was wäre Ihr Vorschlag für ein in Zeiten der Digitalisierung zukunftsfähiges Renten und Sozialsystem?

Das Renten‐ und Sozialsystem hängt wie alles andere von der Arbeit von Menschen und der Verteilung der Arbeitserträge ab. Auch die Digitalisierung resultiert aus menschlicher Arbeit. Entscheidend ist, wie schon ausgeführt, immer die Verteilung. Hier ist nicht nur in Deutschland unter dem neoliberalen Paradigma einiges völlig aus dem Ruder gelaufen. Ich will hier nicht die vielen empirischen Studien, dazu gehört auch die herausragende Arbeit von Piketty, für die Verteilungsschieflage beim Einkommen und Vermögen zitieren, diese sind hinlänglich bekannt ‐ offensichtlich bei vielen Politiker*innen aber immer noch nicht. Aber denen ist dann auch nicht mehr zu helfen, wir müssen sie nur abwählen, diese Versager am Volk. Wenn wir aber die Verteilungsschieflage beenden und die gesellschaftlich zustande gekommenen Produktivitäten auch in der Gesellschaft gerecht verteilen und endlich die Vermögenden adäquat besteuern, Piketty schlägt hier eine jährlich erhobene progressive Kapitalbesteuerung vor, dann müssten wir uns auch keine Sorgen machen. Auch im Hinblick auf unser Renten‐ und Sozialsystem nicht.

Wie bewerten Sie den Umstand, dass der wirtschaftliche Aufschwung Portugals, das sich erklärtermaßen von den Vorhaben der resteuropäischen Austeritätspolitik losgesagt hat, trotz Heraufstufungen namhafter Ratingagenturen in den bundesdeutschen Mainstreammedien weitgehend totgeschwiegen wird? Vermute ich richtig, passiert dort etwas, das nicht sein darf?

Ja, so ist es. Hier kann man den berühmten Schriftsteller und Dichter Christian Morgenstern zitieren: „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Die herrschende neoliberale Elite in der EU lässt es natürlich nicht zu, dass ein „kleines“ Land wie Portugal zeigt, dass es, anders als in Griechenland, wo man mit Austerität eine Elendsökonomie errichtet hat, auch ohne neoliberale Kürzungsorgien beim Staat geht und eine vielmehr expansive Wirtschaftspolitik zu einem Erfolg führt. Wobei wir aber auch den „Erfolg“ in Portugal nicht überbewerten wollen. Auch hier fährt die Links‐Regierung eine ausgleichende staatliche Budgetpolitik und der öffentliche Sektor, nicht nur im Gesundheitswesen, ist nach wie vor stark unterinvestiert. Mit einer wirklich links‐keynesianischen Wirtschaftspolitik, mit einer drastischen Umverteilung von oben nach unten, wäre man noch viel mehr auf eine Erfolgsspur gekommen. Aber die hat auch hier in Portugal leider nicht stattgefunden.

Das Interview wurde für Telepolis von Dr. Joachim Paul geführt.

 

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