08 Jan 2019

Mehr ökonomische Borniertheit geht nicht!

Der Ökonom Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup über die neue CDU-Chefin, eine Wirtschaftspolitik, die »körperliche Schmerzen« verursacht, neue Hartz-Debatten und die alte Macht der Automobilindustrie. Das Interview mit Prof. Bontrup führte die OXI-Redakteurin, Kathrin Gerlof.

 

Fangen wir mit der CDU an: Sind Sie froh, dass nicht Friedrich Merz Angela Merkel beerbt hat und glauben Sie, dass nun mit Annegret Kramp-Karrenbauer etwas anders wird?

Merz steht für einen radikalen, finanzmarktgetriebenen Kapitalismus. Wofür Kramp-Karrenbauer wirtschaftspolitisch steht, weiß sie wohl so richtig selber nicht. Beide sehen den Staat aber eher als einen wirtschaftlichen Störenfried, obwohl sie ihn als Berufspolitiker als einen starken Staat vertreten müssten. Sie hofieren aber einseitig die Kapitaleigner und Vermögenden im Land. Selbst Ordoliberale haben einen Interventionsstaat gefordert. Zumindest gegen marktmächtige Unternehmen. Und wenn Sie Merz und Kramp-Karrenbauer fragen würden, wer bei Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen die dadurch ausfallende Nachfrage ersetzen soll, dann hätten beide keine intelligente Antwort.

Sondern welche?

Das Gegenteil: Sie würden eine krisenverschärfende staatliche Parallelpolitik präferieren. Keynesianismus lehnen beide ab. Vor allen Dingen einen Links-Keynesianismus, der eine Umverteilung von den Kapital- zu den Arbeitseinkünften und eine hohe Vermögensbesteuerung fordert. Also, ich halte in Sachen Wirtschaftspolitik weder was von Merz noch von Kramp-Karrenbauer und mit Kramp-Karrenbauer ist im Hinblick auf ihre Vorgänger als Parteivorsitzende, also Helmut Kohl und Merkel, und den von der gesamten CDU praktizierten und wirtschaftlich verhängnisvollen marktradikalen Neoliberalismus nichts an Veränderung zu erwarten. Hier sei nur noch einmal an die »marktkonforme Demokratie« von Merkel erinnert. Dieser grundsätzliche Kurs wird fortgesetzt. Zum Schaden der Mehrheitsbevölkerung.

Also eher kleinkariertes Krämerdenken. Das habe auch 2018, wie in den Jahren davor, die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung gekennzeichnet, steht im aktuellen Memorandum Ihrer Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Woran machen Sie das fest?

Wirtschaftspolitik zu denken wie die »schwäbische Hausfrau«, die nicht mehr ausgibt, als sie einnimmt, kann man wohl als kleinkariertes Krämerdenken bezeichnen. Ich weiß nicht, wie lange die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik schon ein solches ökonomisches, gesamtwirtschaftliches Nicht-Denken kritisiert. Das, was die gegenwärtige Bundesregierung in einem Verhandlungsmarathon weiter als eine unternehmerfreundliche Politik verabschiedet hat, bedeutet, sie denken nicht an die Interessen der Mehrheitsbevölkerung. CDU/CSU und SPD halten am neoliberalen Umverteilen fest: von den Arbeits- zu den Mehrwert- beziehungsweise Kapitaleinkünften.

Über welche Größenordnung sprechen wir hier?

Über 1,7 Billionen Euro aus der Wertschöpfung, die man den abhängig Beschäftigten auf Basis der Lohnquote von 1993 seit der Wiedervereinigung an Arbeitsentgelten genommen und zu den Kapitaleinkünften, zu den Zins-, Miet-/Pacht- und Gewinnempfängern umverteilt hat – mit entsprechenden negativen Folgen für die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes. Das reicht dieser Großen Koalition offensichtlich noch nicht. Selbst eine mehr als überfällige Wiedereinführung der Vermögensteuer und anständige Erbschaftsteuersätze sind mit der neoliberalen Regierung nicht zu machen. Und da wundert sich die SPD über ihren völligen Ausverkauf. Das hat dann schon pathologische Züge.

Die alte schwarze Null ist die neue schwarze Null, sagen Sie. Finanzminister Olaf Scholz führt den Kurs von Vorgänger Wolfgang Schäuble fort. Oder gibt es doch Unterschiede, Entwicklungen?

Nein, leider nicht. Das Festhalten an einem ausgeglichenen Staatshaushalt steht in der Koalitionsvereinbarung. Eine solche Finanzpolitik, ohne die Möglichkeit eines »deficit spending«, fällt hinter Keynes der 1930er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück und gehört in die ökonomische Mottenkiste verbannt. Eine solche Politik verursacht bei mir als Ökonom körperliche Schmerzen. Mehr ökonomische Borniertheit geht nicht. Und dies vor dem Hintergrund eines völlig unterfinanzierten Staates.

Wie ist hier die Lage?

Die öffentlichen Hände haben von 1991 bis 2017 kumuliert lächerliche 57,5 Milliarden Euro Nettoanlageinvestitionen getätigt. Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt lag der Anteil bei kaum messbaren 0,1 Prozent und die Wachstumsquote der staatlichen Infrastruktur bei lediglich 0,04 Prozent. Von 2003 bis 2008 und von 2013 bis 2016 fielen die Abschreibungsbeträge auf den staatlichen Kapitalstock sogar größer als die Bruttoanlageinvestitionen aus, so ist es hier zu einem schwerwiegenden Substanzverzehr bei der öffentlichen Infrastruktur gekommen. Unternehmer, die sich investiv so verhalten, sind mit ihrem Unternehmen am Ende. Da steht dann der Insolvenzverwalter vor der Tür!

Wie bewertet die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik die Konjunktur – die Prognosen sprechen davon, dass sie sich abschwächt. Worauf steuern wir zu?

Konjunkturprognosen fallen uns Ökonomen schwer. Häufig liegen wir falsch und selbst während eines Jahres werden die Wachstumswerte immer wieder angepasst. Trotz einer wohl zu erwartenden Abschwächung des Wachstums wird die deutsche Wirtschaft aber auch 2019 weiter um die 1,5 Prozent real, das heißt preisbereinigt, wachsen. Das reale jahresdurchschnittliche Wachstum lag dabei von 2010 bis 2017 bei 2,1 Prozent. Da die Produktivität jahresdurchschnittlich aber nur um 1,2 Prozent zulegte, stieg das Arbeitsvolumen seit 2010 um 0,9 Prozentpunkte. Dies erklärt den Abbau der Arbeitslosenzahlen und den Zuwachs bei der Erwerbstätigkeit – gleichzeitig aber auch nur einen geringen neutralen Verteilungsspielraum. Da hier die Arbeitsentgelte je Arbeitsstunde von 2010 bis 2017 um knapp 2,5 Prozent stiegen, und der Verteilungsspielraum bei ebenfalls 2,5 Prozent lag (1,2 Prozent Produktivitätszuwachs plus 1,3 Prozent Inflation), tat sich in der gesamtwirtschaftlichen Verteilung des Volkseinkommens nichts. Das Wachstum kam demnach fast ausschließlich aus einem Beschäftigungszuwachs und nicht aus einer lohnfinanzierten Nachfrage durch eine Umverteilung zu den Arbeitsentgelten. Im Gegenteil: Der Beschäftigungszuwachs ist bitter mit niedrigsten Löhnen und einem Prekariatszuwachs erkauft worden. Und das Wachstum resultierte aus gigantischen Exportüberschüssen, womit Deutschland andere Länder weiter in die Verschuldung getrieben und Arbeitslosigkeit exportiert hat.

Und wie ließe sich gegensteuern?

Gegensteuern lässt sich mit Umverteilung zu den Arbeitsentgelten. Die Kapitaleinkünfte innerhalb der Wertschöpfung sind in Deutschland im Niveau viel zu hoch. Die Gewerkschaften müssen hier bei der Primärverteilung mehr holen und wesentlich aggressiver ihre Tarifpolitik betreiben. Und der Staat müsste bei der Sekundärverteilung einen Großteil der Kapitaleinkünfte durch höhere Steuern abschöpfen und dann über staatliche Nachfrage in den Wirtschaftskreislauf zurückgeben.

Stärkung der Binnennachfrage, höhere Einkommen für abhängig Beschäftigte, Steigerung der Staatsquote, signifikant weniger prekäre Beschäftigungsverhältnisse – seit Langem schon unterbreitet Ihre Gruppe Vorschläge, die sich nicht nur, aber doch stark aus dem Keynesianismus speisen. Gab es 2018 irgendwelche Ansätze in der Politik, die aus Ihrer Sicht in die richtige Richtung weisen?

Mir fallen da wirklich keine substanziellen Ansätze ein. Die beschlossene Rentenverbesserung für Mütter, die Mehrausgaben für Kitas und Schulen, die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns sind nur Marginalien und bewegen sich ausschließlich in einer Symptompolitik. Ich denke als Wissenschaftler aber kausal. Wir müssen die Krisenursachen beseitigen, sonst wird das alles nichts.

Haben Sie ein Beispiel?

Schauen Sie sich das weitere Politikversagen in Sachen Wohnungsmärkte an. Erst kommunales (öffentliches) Wohnungseigentum an private Immobilienkonzerne zu Niedrigstpreisen im Zuge eines neoliberalen Privatisierungswahns verscherbeln und dann erstaunt tun, dass diese Konzerne mit verknapptem Wohnraum Profit machen wollen. Wie dumm ist das denn? Außerdem wird auch mit verschärften Mietpreisbremsen keine zusätzliche Wohnung gebaut, eher ein weiteres privates Bauen negativ angereizt. Das einzig Richtige wäre, der Staat wird selbst der »Bauherr« und schafft so, regional gezielt, neuen Wohnraum. Finanziert mit Steuermehreinnahmen aus einer rigorosen Bekämpfung von Steuerkriminalität. Das nenne ich Ursachenpolitik auf den Wohnungsmärkten. Fragen Sie mal unsere sogenannten Volksvertreter, ob sie das auch wollen. Ich kenne die Antwort!

2019 wird in Europa gewählt. Was wäre wirtschaftspolitisch gegenwärtig am dringendsten?

In der EU läuft wirtschaftspolitischer Neoliberalismus gepaart mit Nationalismus pur. Die EU schafft es nicht einmal, die Geldpolitik der EZB mit der Fiskalpolitik der einzelnen Länder in die gleiche Richtung zu koordinieren. Mit dem Fiskalpakt hat sich die EU-Politik selbst erhängt. Ein notwendiges Budget für die Eurozone, das zumindest die deutsche und französische Regierung wollen, wird nach wie vor von vielen rechten Regierungen der Mitgliedsländer blockiert. Und der sogenannte Euro-Rettungsschirm ESM, der Kredite an notleidende Staaten vergeben soll, verlangt im Fall der Fälle vom Schuldnerland gleichzeitig eine ökonomisch kontraproduktive Austeritätspolitik, obwohl in der Krise das Gegenteil, nämlich eine expansive Fiskal- und Geldpolitik, notwendig wäre. Außerdem ist Schuldnerländern mit Kreditprolongierungen nicht viel geholfen. Das sehen wir mehr als überdeutlich im Fall Griechenland.

Was wäre die Alternative? 

Was dagegen dringend notwendig wäre, ist, für die Schuldner einen Schuldenerlass auf den Weg zu bringen. Das müssen vor allen Dingen wir Deutschen verstehen. Leben wir doch mit unseren Exportüberschüssen und unserer exportierten Arbeitslosigkeit von den Schuldnern. Wie verlogen ist hier die deutsche Politik, wenn alle Welt weiß, dass allein etwa 40 Prozent der Produktionskapazitäten der deutschen Automobilindustrie ausschließlich fürs Ausland da sind? Und wenn Sie mich jetzt fragen, was braucht Europa gegenwärtig am dringendsten, dann sage ich Ihnen, mit viel ökonomischem Sachverstand ausgerüstete EU-Politiker, welche die hier angesprochenen Punkte schnellstens lösen. Und dann haben wir noch nicht über die Beseitigung der überfälligen Klimaschutz- und Arbeitsmarktprobleme in der EU gesprochen, ganz zu schweigen von den gigantischen sozialen Verwerfungen.

Ein Thema hat 2018 auch immer wieder für Diskussionen unter Ökonomen gesorgt: Kann der Euro mit dem Dollar konkurrieren?

Nein, das kann der Euro zurzeit noch nicht. Solange die Wirtschaftspolitik in der EU, wie gerade beschrieben, so uneinig und falsch ausgerichtet ist, wird der US-Dollar die Leitwährung der Welt bleiben. Vor allen Dingen in der Krise flüchten die Vermögenden der Welt mit ihrem Geld in den sicheren »Dollarhafen«, und die US-Amerikaner können sich so ein Doppeldefizit – im Staatshaushalt und in der Leistungsbilanz – locker erlauben. Sie zahlen ihre Schulden als größter Schuldner der Welt ganz einfach mit gedruckten Dollars. Von einer solchen Komfortzone ist die EU weit entfernt. Aber offensichtlich hat die EU-Kommission erkannt, dass man etwas gegen die US-Dollar-Hegemonie unternehmen muss. So soll unter anderem die europäische Airbus-Industrie zukünftig ihre Flugzeuge nicht mehr in Dollar, sondern in Euro fakturieren und man will auch mit den internationalen Zahlungsdienstleistern wie Visacard, Mastercard oder Paypal reden. Auch sie sollen ihre Fakturierungen auf Euro umstellen. Ich fürchte, das wird aber ein Wunschdenken bleiben.

2018 war auch wieder ein Jahr mit vielen Berichten über Armut in der Bundesrepublik. Die soziale Spaltung ist real, und doch gibt es Debatten darüber, ob mit dem richtigen Armutsbegriff operiert wird. 

Armut ist natürlich immer nur eine relative Armut. 100 Euro Einkommen in Deutschland haben eine andere Kaufkraft als zum Beispiel 100 Euro in Polen oder in Südafri-ka. Und Einkommensarmut wird auch innerhalb eines Landes relativiert, die laut EU-Konvention immer dann vorliegt, wenn es Menschen in einer Volkswirtschaft an Teilhabemöglichkeiten fehlt, die für die Mehrheit der Bevölkerung selbstverständlich sind. Dies ist in aller Regel der Fall, wenn man über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens einer Gesellschaft verfügt. Diesbezüglich hat gerade der Paritätische Gesamtverband für Deutschland festgestellt, dass dies für 13,7 Millionen Bürger der Fall ist – das sind über 16 Prozent. Jedes fünfte Kind wächst bei uns in Armut auf. Mehr Skandal in einem der reichsten Länder der Erde geht nicht. Aber selbst dieser reale, empirisch verifizierte Tatbestand wird von den Vermögenden und ihren politischen, wissenschaftlichen und medialen Claqueuren nicht anerkannt. Das ist unerträglich.

Im Zusammenhang damit steht die Debatte über Hartz IV, Abschaffung der Sanktionen, höhere Regelsätze: Welche Vorschläge sind erwägenswert, welche sollten schnell abgewählt werden?

Die Unerträglichkeit gilt auch für die nicht enden wollende Debatte um Hartz IV. Auch hier herrscht die Verwerflichkeit des schon erwähnten Symptomdenkens. Keiner fragt mehr nach der Ursache. Warum gibt es überhaupt Hartz IV?

Meist wird gesagt: Weil die SPD einen Fehler gemacht hat.

Die Antwort fällt nicht schwer. Weil wir mittlerweile über 40 Jahre in Deutschland mit Massenarbeitslosigkeit »leben« und die herrschende Politik unfähig war und offensichtlich weiter ist, die Ursache dafür zu beseitigen. Bei einer vollbeschäftigten Wirtschaft gäbe es kein Hartz IV. Übrigens auch keine Umverteilung von den Arbeits- zu den Kapitaleinkünften. Die Richtung wäre hier eher umgekehrt. Um aber Vollbeschäftigung zu erreichen, müssen wir die Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich reduzieren. »Kurze Vollzeit für alle« muss als Forderung umgesetzt werden. Ich habe es für die gesamte deutsche Wirtschaft konkret durchgerechnet und dazu veröffentlicht. Vor diesem Hintergrund ist die fortwährende gesamte Diskussion über Hartz-Regelsätze und Sanktionen oder nicht Sanktionen nur noch peinlich.

Das ganze Jahr hat uns die Auto-industrie sozusagen in Atem gehalten. Betrug, Strukturkrise, Elektro-Hype: Sagt uns die Politik, wie es hier wirklich steht?

Nein, die Politik traut sich hier nicht, die Wahrheit zu sagen. Und die ist grausam. Erstens gigantische binnenwirtschaftliche Überkapazitäten beim liebsten Spielzeug der Bürger mit der Folge eines notwendigen Exports und damit Leistungsbilanzüberschüssen, die man auch nicht mit mehr Importen auflösen kann. Zweitens verfügen die Endproduzenten in der Automobilindustrie über eine Marktmacht, die ständig missbräuchlich zum Einsatz kommt. An den Absatzmärkten gegenüber den Kunden und an den Beschaffungsmärkten gegenüber den Lieferanten. Hier vollziehen sich täglich Ausbeutungen und in Folge Umverteilungen von Wertschöpfungen. Am Ende immer zugunsten der Autokonzerne. Wir kennen sie alle. So viele sind es ja nicht mehr. Und wenn ein Industriezweig einmal durch kapitalistisch immanente Konzen-trations- und Zentralisationsprozesse so mächtig geworden ist, dann wird natürlich auch die Politik angegriffen und für die einseitigen Profitinteressen der Autokonzerne – dies machen aber alle Konzerne – vor den Karren gespannt. Hier lässt dann der Abgasskandal grüßen! Das besonders Verwerfliche dabei ist, dass die herrschende Politik damit kein Problem hat. Hier ist deshalb für die Bürger auch nichts an Veränderungen zu erwarten. Jedenfalls so lange nicht, bis das heutige Machtdiktat der Konzerne von der Politik beseitigt wird.

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