01 Mrz 2022

Heinz-J. Bontrup: „Der kranke Mann Europas – Ungelöste gesamtwirtschaftliche Probleme“

Einleitung

Nicht nur die ökologische Frage und Klimakrise steht an. Deutschland leidet auch unter chronischer Arbeitslosigkeit, millionenfacher prekärer Arbeit und Armut. Hinzu kommt eine Wachstumsschwäche bei nur geringer Produktivität. Und durch riesige Exportüberschüsse ist Deutschland privat und staatlich im Inland stark unterinvestiert. Dem steht trotzdem ein noch nie so hoch konzentrierter Reichtum an Vermögen bei Wenigen und eine hohe Machtkonzentration von Unternehmen in vielen Branchen gegenüber, die nicht nur in der Wirtschaft selbst zu großen Schäden führt, sondern auch gegenüber der Politik wird die Macht demokratiegefährdend zum Einsatz gebracht. Deutschland ist in Summe eine „zerrissene Republik“ (Christoph Butterwegge).

Wachstumsstagnation

Die schwerwiegende ökonomisch-politische und ökologische Krisenproblematik wird von einem nicht hinreichenden Wachstum überlagert. Der jahresdurchschnittliche Zuwachs des preisbereinigen (realen) Bruttoinlandsprodukts (BIP) lag von 1991-2004 nur noch bei 1,2 % und in der Merkel-Ära von 2005-2021 bei 1,1 %. Die Erwerbstätigkeit legte in den Zeiträumen jahresdurchschnittlich mit 0,1 und 0,8 % zu, wobei der Zuwachs überwiegend mit Teilzeit und geringfügiger (prekärer) Beschäftigung erkauft wurde. Dies zeigt sich überdeutlich bei den Zuwachsraten des Arbeitsvolumens, dass von 1992-2004 sogar um -0,5 % zurückging und von 2005-2021 lediglich um 0,4 % zulegte. Auch die Arbeitsproduktivität geht erschreckend zurück. Lag sie von 1991-2004 jahresdurchschnittlich, als Stunden-Produktivität gemessen, noch bei 1,9 %, so kam der Zuwachs von 2005-2021 nur noch auf 0,8 %. Die Ursachen für den Produktivitätsverfall sind noch nicht abschließend erforscht, sie könnten in einem nachlassenden Wettbewerb liegen und/oder einem Strukturwandel zu immer mehr produktivitätsschwachen Dienstleistungen und einem damit schrumpfenden industriellen Sektor. Auch die stark gewachsene Teilzeitbeschäftigung und prekäre Arbeit könnte einen Teil erklären.

In Deutschland liegt aber nicht nur eine zu geringe Wachstumsproduktivität vor, sondern auch eine nachhaltige staatliche und private Investitionsschwäche. Die jahresdurchschnittliche Wachstumsrate aller Netto-Investitionen (Brutto-Investitionen minus Abschreibungen) lag von 1992-2019 bei -1,6 %. Das heißt im Befund: Substanzverlust. Deutschland leidet unter einem riesigen Investitionsstau; insbesondere im öffentlichen Sektor (vgl. meinen Artikel „Ohne Steuern keine öffentlichen Investitionen“ in Makroskop vom 23.02.2022).

Netto-Investitionen setzen eine gesamtwirtschaftliche Ersparnis voraus. Die privaten Haushalte müssen zur Finanzierung der Netto-Investitionen einen Teil ihres verfügbaren Einkommens sparen, d.h., sie dürfen es nicht konsumieren. Bei der inländischen Identitätsgleichung von geplanten und ungeplanten Ersparnissen sowie geplanten und ungeplanten Netto-Investitionen können sich in offenen Volkswirtschaften mit Exporten und Importen aber nicht unbeträchtliche Differenzen ergeben, die immer nur dann nicht vorkommen, wenn der Saldo von Exporten und Importen null ist. Sind die Exporte größer als die Importe, so wird ein Teil des inländischen Sparens für die Güterversorgung des Auslands verwendet und steht damit zur Finanzierung nicht mehr für inländische Netto-Investitionen zur Verfügung. Reicht dagegen die inländische Ersparnis zur Finanzierung der Netto-Investitionen nicht aus (hier sind die Importe größer als die Exporte), so müssen Kapitalimporte für einen entsprechenden Ausgleich sorgen.

Ökonomisch integriert in die gesamtwirtschaftliche Identitätsgleichung von Ersparnis und Netto-Investitionen sowie Export- oder Importüberschüssen ist die Verteilungsfrage. Nur die Empfänger hoher Einkommen und Vermögenseigentümer können hier wirklich und nachhaltig sparen. Die neoliberal herbeigeführten und von den Herrschaftseliten in Deutschland gewollten heftigen Umverteilungen von den Arbeits- zu den Mehrwerteinkünften haben in der Vergangenheit viele Wachstumsprozentpunkte gekostet. Den über 40 Millionen abhängig Beschäftigten sind hier seit der Wiedervereinigung auf Basis der gesamtwirtschaftlichen Lohnquote von 1993, die Quote erreichte da ihren Höchststand, über 1,4 Billionen € an Einkommen vorenthalten und zu den Unternehmens- und Vermögenseinkommen umverteilt worden.

Empirische gesamtwirtschaftliche Befunde

Von diesen insgesamt seit der Wiedervereinigung völlig aus dem Ruder gelaufenen neoliberalen Entwicklungen werden wir jetzt eingeholt, wenn es um zukünftig dringend notwendige Investitionen in die Beseitigung des bestehenden Investitionsstaus und on-top um Investitionen in eine Energie- und Klimawende geht. Bevor hier aber auf die Befunde im Einzelnen eingegangen wird, sollen noch kurz zum besseren Verständnis anhand der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR), ausgehend vom nominalen (also nicht preisbereinigten) Bruttoinlandsprodukt (BIP), die entscheidenden Ersparnisse und Netto-Investitionen sowie der jeweilige Außen-Finanzierungssaldo (Exporte minus Importe) abgeleitet werden. Addiert man zum nominalen BIP den Saldo der Primäreinkommen mit der übrigen Welt, so erhält man das Brutto-Nationaleinkommen. Werden davon die Abschreibungen (Afa), der Werteverzehr, abgezogen, so ergibt sich das Netto-Nationaleinkommen (Primäreinkommen). Unter Berücksichtigung der laufenden Transfers mit der übrigen Welt erhalten wir dann das verfügbare Einkommen. Es teilt sich in Konsum und Ersparnis auf. Unter Berücksichtigung von Vermögenstransfers mit dem Ausland können die Ersparnisse dann netto im Inland investiert werden oder sie dienen der Finanzierung von Exportüberschüssen. Dieser Zusammenhang wird von vielen offensichtlich nicht verstanden, wenn man von einem „Übersparen“ spricht. Eine „Überersparnis“ gibt es nicht. Sämtliche Ersparnis wird entweder für geplante oder ungeplante Netto-Investitionen oder für Exportüberschüsse verbraucht. Sind dagegen die Ersparnisse zur Finanzierung der Netto-Investitionen zu gering, so kommt es zu Importüberschüssen mit entsprechenden Kapitalimporten. Diese außenwirtschaftlichen Befunde zeigt uns dann der jeweilige Außen-Finanzierungssaldo. Im Folgenden sollen zu den gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen die empirischen Befunde für Deutschland seit der Wiedervereinigung von 1991-2004 und von 2005-2021 (Merkel-Ära) dargelegt werden.

Das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP) kam nach der Wiedervereinigung von 1991-2004 auf einen kumulierten Wert in Höhe von 26.973,8 Mrd. €. Das entsprach einer jahresdurchschnittlichen nominalen Wachstumsrate des BIP von knapp 2,8 %. Das reale Wachstum lag nur bei 1,2 %. Unter Berücksichtigung des Brutto-Nationaleinkommens und der Abschreibungen lag das kumulierte Netto-Nationaleinkommen bei 22.849,5 Mrd. €. Nach Abzug der laufenden Transferzahlungen mit der übrigen Welt kam das verfügbare Einkommen auf einen kumulierten Wert von 22.556,2 Mrd. €. Das Einkommen stieg dabei, wie das nominale BIP, jahresdurchschnittlich mit 2,8 %. Vom verfügbaren Einkommen wurden 20.966,8 Mrd. € konsumiert und 1.589,4 Mrd. € gespart. Die jahresdurchschnittliche Sparsumme betrug 122,3 Mrd. €. Die mit der Ersparnis finanzierten Netto-Investitionen lagen in Summe bei 1.609,7 Mrd. € (im Jahresdurchschnitt bei 123,8 Mrd. €). Sie waren fast gleich groß, so das der Außen-Finanzierungssaldo von 1991-2004 kumuliert bei -21,2 Mrd. €. lag. Hier könnte man von einem lehrbuchmäßigen Befund sprechen, wonach der Außen-Finanzierungssaldo um null schwanken sollte. Bei einer differenzierten Betrachtung zeigt sich aber ein anderes Bild. Wegen der Wiedervereinigung reichte von 1991-2001 die gesamtwirtschaftliche Ersparnis bei weitem nicht aus, um die getätigten Netto-Investitionen zu finanzieren. Hier waren kumulierte Kapitalimporte aus dem Ausland in Höhe von 196,4 Mrd. € notwendig.

Von 2005-2021 kehrte sich dann die Entwicklung völlig um. Maßgeblich auch beeinflusst durch die Einführung des Euros. Jetzt wurden erhebliche Exportüberschüsse realisiert. Die Ersparnis war hier mit 7.316,1 Mrd. € extrem größer als die Netto-Investitionen mit nur 1.324,9 Mrd. €. Sie lagen mit jahresdurchschnittlich 77,9 Mrd. € noch weit unter den Netto-Investitionen im Zeitraum 1991-2004 mit 115,0 Mrd. €. Die extrem hohen Exportüberschüsse von 2005-2021 haben dagegen mit einem Außen-Finanzierungsüberschuss von kumuliert 5.922,3 Mrd. € die gesamtwirtschaftliche Ersparnis zu 80,9 % absorbiert. Jetzt wurde das Ausland mit entsprechenden deutschen Kapitalexporten finanziert.

Über den gesamten Zeitraum von 1991-2021 lag in Deutschland die gesamtwirtschaftliche Ersparnis bei 8.905,5 Mrd. €, das waren jahresdurchschnittlich 287,3 Mrd. €, womit alle Netto-Investitionen in Deutschland hätten finanziert werden können. Realiter waren das aber nur kumuliert 2.934,6 Mrd. €, jahresdurchschnittlich 94,7 Mrd. €. Die Differenz von 5.970,9 Mrd. €, bzw. jährlich 192,6 Mrd. €, ist über Kapitalexporte zur Finanzierung der bei uns von Ausländern getätigten Einkäufe (Exportüberschüsse) abgeflossen.

Gibt es eine Problemlösung?

Jetzt soll, so zumindest die Hoffnung, der große Investitionsstau in Deutschland aufgehoben und in eine Energie- und Klimawende investiert werden. Dies würde jährlich dreistellige Milliarden-Beträge an Netto-Investitionen bedeuten. Wenn wir dabei weiter „Exportweltmeister“ mit riesigen Exportüberschüssen bleiben wollen, wonach es aussieht, so wird das nicht gelingen! Mit jährlich 94,7 Mrd. Euro privater und öffentlicher Netto-Investitionssumme, wie in den letzten 31 Jahren seit der Wiedervereinigung, ist weder die Beseitigung des bestehenden Investitionsstaus noch die ökologische Wende gesamtwirtschaftlich aus der Sparsumme finanzierbar.  Deshalb müssen die Exportüberschüsse gesenkt werden, dass kann u.a. auch über mehr Energieimporte gehen. Gleichzeitig müsste aber die Binnenwirtschaft stärker und produktiver wachsen. Dies setzt mehr Technikeinsatz, auch mehr Digitalisierung, eine kräftige Umverteilung von oben nach unten beim Einkommen und Vermögen voraus. Durch das so steigende Wachstum und verfügbare Einkommen würden ceteris paribus bei gleichem Konsum auch die Ersparnisse zulegen und damit die gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsspielräume für dringend notwendige private und öffentliche Nettoinvestitionen geschaffen.

Dies verlangt aber nach einem fundamentalen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik. Mit einer weiter betriebenen neoliberalen Markt- und Austeritätspolitik geht das nicht. Auch nicht mit ein „bisschen“ keynesianischer Symbolpolitik, die die Schuldenbremse vielleicht modifizieren, aber nicht vollständig abschaffen will. Was nötig wäre ist eine links-keynesianische Wirtschaftspolitik, die auf eine Beseitigung der Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigungsverhältnisse, auf primäre Umverteilung der Wertschöpfung zu Gunsten der abhängig Beschäftigten und eine adäquate Besteuerung beim Vermögen sowie auf eine Zerschlagung wirtschaftlicher Macht durch privatwirtschaftliche Unternehmen setzt. Und nicht zuletzt müsste es im Innenverhältnis der Unternehmen zu einer paritätischen Mitbestimmung zwischen Kapital und Arbeit sowie einer monetären Beteiligung der Beschäftigten an den Unternehmensergebnissen kommen.

Der Aufsatz wurde unter der Überschrift „Der kranke Mann Europas“ in Makroskop am 9. Februar 2022 veröffentlicht

 

 

 

 

 

 

 

 

Schreiben Sie einen Kommentar