28 Feb 2021

Heinz-J. Bontrup: „Staatsschulden erlassen – aber wie?“

Nach der weltweiten Finanz-, Immobilien- und Wirtschaftskrise von 2007-2009 sind durch die Corona-Pandemie in 2020 die Staatsschulden noch einmal absolut und relativ angestiegen.1 Auch 2021 wird es zu weiteren Kreditaufnahmen der Staaten kommen. Deshalb ist jetzt in der Corona-Krise, wie schon 2007 ff., eine neue Debatte um Staats-schulden entbrannt. Man ist sich weltweit weitgehend in Wissenschaft und Politik einig, dass es kurzfristig keine Alternative zur Staatsverschuldung gibt, will man nicht einen totalen Systemzusammenbruch riskieren. Was kommt aber danach, wenn die Krise ei-nigermaßen überwunden ist?

Hier scheiden sich die „Geister“. Die einen wollen dann „sparen“ und, wie schon vor der Krise, weiter einen neoliberalen Austeritätskurs fahren. Andere wollen die Verschuldung bei niedrigsten bis zu Negativ-Zinsen einfach weiterbetreiben und lange Tilgungszeiten für die Staatsschulden festlegen. Wiederum andere wollen die Staatskredite bei den Notenbanken monetarisieren und sie dann per Schuldenschnitt abschreiben bzw. wertberichtigen. Und eine weitere Gruppe fordert zur Kompensation der Staatsschulden eine einmalige Vermögensabgabe und zusätzlich eine kontinuierlich zu erhebende Vermö-gens- und Erbschaftssteuer. Im folgenden Beitrag soll auf diese unterschiedlichen For-derungen wertend eingegangen und abschließend die Frage aufgeworfen werden, welche der Forderungen sich realiter in der herrschenden Politik nach der Krise und der Bundestagswahl im Herbst durchsetzen wird.

Durch die Corona-Krise noch mehr Staatsschulden

Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist 2020 wegen der weltweiten Corona-Pandemie in der EU27 um -7,4 % eingebrochen. In der Eurozone19 waren es sogar -7,8 %. Groß-britannien erlitt einen Rückgang von -10,3 %. Noch stärker ging mit -12,4 % die Wirt-schaftsleistung in Spanien zurück. Auch Italien (-9,9 %), Frankreich (-9,4 %), Portugal (-9,3 %) und Griechenland (-9,0 %) mussten herbe Einbrüche verkraften. Deutschland kam mit einem Rückgang von -5,0 % noch ziemlich glimpflich davon. Auch die USA verzeichneten einen ähnlich starken Einbruch um -4,6 %, während nur Chinas reale Wirt-schaftsleistung um 2,3 % zulegte.

Um nicht noch mehr Verluste bei der preisbereinigten Wirtschaftsleistung hinnehmen zu müssen, haben alle Staaten, mehr oder weniger, auf den Briten John Maynard Keynes (1883-1946) zurückgegriffen und riesige Konjunktur- und Unterstützungsprogramme, kreditfinanziert, aufgelegt. Es kam also zu einem klassischen deficit spending. In Folge wuchsen wie schon nach der weltweiten Finanz-, Immobilien- und Wirtschaftskrise in kurzem Abstand noch einmal die Staatschulden. In der EU27, wo ein maximaler Schuldenstand von 60 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts erlaubt ist, legte der Schulden-stand der Staaten von 79,2 auf 93,9 % zu. In der Eurozone19 von 85,9 auf 101,7 %. Beim größten Schuldner Griechenland stiegen die Schulden von 180,5 auf 207,1 %, gefolgt von Italien. Hier erhöhten sich die Schuldenbestände von 134,7 auf 159,6 %. Nicht viel besser sieht es in Portugal, Spanien und Belgien aus. Auch der französische Staat steckt tief in Schulden. Der Schuldenanstieg kam hier auf 17,8 Prozentpunkte, von 98,1 auf 115,9 %. Auch das aus der EU ausgetretene Großbritannien musste einen Zuwachs von 85,4 auf 104,4 % hinnehmen, genauso wie die USA von 108,7 auf 127,9 %. In Deutschland verschuldete sich 2020 der Staat (Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungen) um insgesamt 158,2 Milliarden Euro. Das entsprach, bezogen aufs BIP, einem Finanzierungssaldo von -4,8 % und die Schuldenquote stieg von 59,6 auf 71,2 %.

Zu dieser staatlichen Verschuldung in der Krise gibt es kurzfristig keine Alternative. Staatsschulden sind dabei nicht mit einzelwirtschaftlichen Schulden von privaten Haushalten und Unternehmen gleichzusetzen und Staatsschulden auch keine „Versündigung“ an zukünftigen Generationen.2 Im Gegenteil: Kredite sorgen vor und sind unabhängig vom Krisenmodus wirtschaftlich unverzichtbar. Steigt außerdem die Wirtschaftsleistung mehr als die Schulden, so geht die entscheidende relative Verschuldung auch wieder zurück. Zu Beginn einer wirtschaftlichen Leistung steht darüber hinaus in der Regel immer ein Kredit. Wäre dieser z.B. jetzt den Impfstoffunternehmen in der Pandemie nicht gegeben worden, gäbe es keinen Impfstoff.

Schuldenbremsen sind kontraproduktiv

Wie deshalb PolitikerInnen auf die „Schnapsidee“ von Schuldenbremsen, besser Kredit-bremsen, ausgerechnet auch noch für den größten gesellschaftlichen Player, den Staat, kommen können, ist unbegreiflich bzw. zeigt den hohen Nachhilfebedarf für Politik in Sachen Ökonomiewissen. Man stelle sich nur einmal vor, die Politik würde es auch den Unternehmern verbieten kreditfinanzierte Investitionen aufzunehmen, ohne die übrigens kein Unternehmen existieren könnte: Was würde dann wohl die Unternehmerschaft mit der Politik machen? PolitikerInnen erlegten sich aber eine Kreditbremse auf und schrie-ben diese sogar 2009 ins Grundgesetz. Und 2012 führten sie auf europäischer Ebene einen Fiskalpakt für die Fiskalpolitik der Eurostaaten ein. Dieser erlaubt noch eine maximale Nettoneuverschuldung von 3 % pro Jahr und eine Schuldenstandsquote von 60 %, jeweils bezogen auf das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP).
Diese Werte sind von der Politik rein willkürlich gesetzt worden. Man ist hier von einem nominalen Wirtschaftswachstum von 3 % ausgegangen. Bei einer dann von der EZB vorgegebenen Zinsinflationsrate von 2 % würde das Wachstum real noch um 1 % steigen. Der Staat könnte dann aber immerhin, ohne die Schuldenstandsquote von 60 % weiter zu erhöhen, eine jährliche Kreditaufnahme von bis zu 1,8 % (bezogen auf das nominale Wachstum) tätigen (1,8/3,0 = 0,6). Ist das nominale Wachstum größer als 3 %, z.B. 4 %, so sinkt die Schuldenquote bei einer gleich großen Kreditaufnahme von 1,8 % auf 45 % (1,8/4,0 = 0,45). Soll es dagegen bei einer Schuldenstandsquote von 60 % bleiben, so könnte der Staat bei einem Wachstum von 4 % seine Kreditaufnahme auf 2,4 % steigern (2,4/4,0 = 0,6).

Um aber die maximal erlaubte jährliche Kreditaufnahme von 3 % zu realisieren und gleichzeitig die Schuldenquote von 60 % zu halten, müsste das nominale Wirtschafts-wachstum bei 5 % liegen (3,0/5,0 = 0,6). Bei einer unterstellten Zielinflationsrate von 2 % wäre das dann mit 3 % eine hohe reale Wachstumsrate, die in Deutschland nach der Wiedereinigung bis heute im Jahresdurchschnitt nicht erreicht wurde. Hier lag das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts realiter bei lediglich knapp 1,4 %. Trotzdem hätte dies für Deutschland, bei einer gegebenen durchschnittlichen Inflationsrate im gleichen Zeitraum von 1,7 % und einem damit nominalen Wachstum von 3,1 %, eine jährliche Kreditaufnahme von 1,86 % ermöglicht (1,86/3,1 = 0,6). Und diese wurde mit durch-schnittlich 1,8 % von 1991 bis 2019 auch fast exakt erreicht; wohl aber mehr zufällig als geplant.

Betrachtet man dagegen die Jahre 2007 und von 2014 bis 2019, so erzielte der deutsche Staat (Bund, Länder, Gemeinden und die Sozialversicherung) Finanzierungsüber-schüsse, wobei in den Jahren 2012 und 2013 ein ausgeglichener Haushalt realisiert wurde. Im Jahresdurchschnitt der Jahre kam es zu einem Plus von 0,8 %, was absolut von 2011 bis 2019 einem Finanzierungsüberschuss von 235,2 Mrd. Euro entsprach. Dadurch baute Deutschland die Schuldenstandsquote, die sich wegen der weltweiten Finanz-, Immobilien- und Wirtschaftskrise bis 2010 auf 82,4 % erhöht hatte, wieder auf 59,6 % in 2019 ab. So konnte Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) im Jahr 2020 verkünden, der Staat hätte „gespart“, was in der Corona-Krise ausgesprochen helfen würde. Dass Deutschland damit aber immer mehr „kaputtgespart“ wurde, vergisst er natürlich zu sagen. Mehr Populismus geht nicht! Bei einer Beibehaltung der für Deutsch-land völlig unproblematischen Schuldenstandsquote von 82,4 % im Jahr 2010 und einem realisierten nominalen Wachstum von 2,1 % hätte sich Deutschland mindestens mit 1,73 % jährlich neuverschulden können (1,73/2,1 = 0,824). Mindestens deshalb, weil, wäre es zu dieser Neuverschuldung gekommen, es zu zusätzlichen multiplikativen Effekten auf die nominale Wachstumsrate von 2,1 % gekommen wäre. Bei nur 2,5 % Wachstum hätte die Neuverschuldung noch auf 2,06 % zulegen können (2,06/2,5 = 0,824). Geht man hier aber selbst nur von den 1,73 % Neuverschuldung aus, so wären in den Jahren 2007 und 2012 bis 2019 insgesamt 469,9 Mrd. Euro zusätzlich an Staats-ausgaben und Transferleistungen möglich gewesen. Dieses dringend benötigte Geld hätte dann der staatlichen Infrastruktur, Bildung und einer sozial-ökologischen Vorsorge sowie zur Bekämpfung der bestehenden Arbeitslosigkeit gutgetan.

Legt man im Vergleich zum Europäischen Fiskalpakt die 2009 ins Grundgesetz verankerte wesentlich schärfere deutsche Schuldenbremse zugrunde (Art. 109 GG), so wird dem Bund nur noch eine jährliche Kreditaufnahme von bis zu 0,35 % des nominalen BIP gestattet und den Bundesländern (inkl. ihrer jeweiligen Gemeinden) ab 2020 sogar verboten, überhaupt noch Schulden zu machen. Die 0,35 % beziehen sich dabei auf ein strukturelles Defizit, d. h. eines, das in einer wirtschaftlichen „Normallage“ auftritt, und weder konjunkturell noch durch eine außergewöhnliche Notlage (wie etwa Naturkata-strophen) bedingt ist. Im Gegensatz zur konjunkturellen und notlagenbedingten Ver-schuldung muss das Defizit des Bundes über einen Konjunkturzyklus hinweg nicht wie-der abgebaut werden, und es bedarf auch keiner besonderen politischen Rechtfertigung. Bei einer, wie im Europäischen Fiskalpakt, auch hier maximal zugestandenen Schulden-standsquote von 60 %, würde eine jährliche Kreditaufnahme beim Bund von 0,35 % nur (0,35/0,58 = 0,6).

Die niedrige Neuverschuldung ist dabei in Deutschland bewusst gewählt, um so bei hö-heren nominalen Wachstumsraten den Verschuldungsbestand abbauen zu können. Seit der Wiedervereinigung lag die Wachstumsrate in Deutschland bei 3,1 % und demnach hätte die jährliche Nettoneuverschuldung, wie oben gezeigt, auch bei 1,86 % liegen kön-nen, und nicht nur, wie nach deutscher Schuldenbremse gefordert, bei 0,35 %. Was tut sich demnach der deutsche Staat und die Gesellschaft mit der im Grundgesetz veran-kerten kontraproduktiven Kreditbremse an? Was sich die herrschende Politik dabei gedacht hat, den Bundesländern jegliche Kreditaufnahme ab 2020 zu verbieten, ist selbst ohne ökonomisches Wissen, schon mit nur gesundem Menschenverstand, nicht nach-zuvollziehen. Man hat damit den Ländern und ihren Gemeinden quasi verboten, mit ent-sprechenden Investitionen die Zukunft zu gestalten. Für Bundesländer mit einem heuti-gen Schuldenstand von über 60 % des Bruttoinlandsprodukts bedeutet dies sogar, dass sie nicht nur einen strukturellen Haushaltssaldo von null vorlegen müssen, sondern zum Schuldenabbau zukünftig Haushaltsüberschüsse auszuweisen haben.

Schulden gleich Vermögen

Sämtliche Schulden (staatliche und private) entsprechen gesamtwirtschaftlich der Summe allen Vermögens, der Saldo ist immer null. Schaut man sich hier die Finanzierungsrechnung für Deutschland von 1991- 2019 an, so wird deutlich, dass es drei Gläu-bigersektoren gibt: die Privaten Haushalte, Nichtfinanzielle Kapitalunternehmen und die Finanzinstitute. Sie alle erzielten Finanzierungsüberschüsse, erhöhten also ihre Vermögensbestände. Die Privaten Haushalte um 3.405,1 Mrd. Euro, die Nichtfinanziellen Ka-pitalunternehmen um 191,7 Mrd. Euro und die Finanzinstitute um 262,4 Mrd. Euro. Den drei Gläubigersektoren standen zwei Schuldnersektoren gegenüber. Der Staat (Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungshaushalte) und das Ausland. Der Staat ver-schuldete sich mit 930,5 Mrd. Euro und das Ausland mit 2.928,7 Mrd. Euro. Der mit Abstand größte Schuldnersektor ist also das Ausland (vgl. die folgende Tab. S. 5).

Nach der Wiedervereinigung benötigte Deutschland Kapitalimporte aus dem Ausland. Die gesamtwirtschaftliche Ersparnis reichte nicht aus, um die notwendigen Nettoinvesti-tionen (Bruttoinvestitionen minus Abschreibungen) im Zuge der Wiedervereinigung zu finanzieren. Die Leistungsbilanz war negativ. Von 1991-2001 lag die Ersparnis kumuliert bei 1.289,9 Mrd. Euro und die Nettoinvestitionen bei 1.511,8 Mrd. Euro. Demnach finan-zierte das Ausland die deutschen Investitionen mit 221,9 Mrd. Euro. Ab 2002 wurden dann, von der EU immer mehr kritisierte, hohe deutsche Leistungsbilanzüberschüsse erzielt – und es kam in Folge zu Kapitalexporten ins Ausland.3 Das heißt, das Ausland musste sich jetzt immer mehr in Deutschland verschulden. Die empirischen Befunde zeigen dabei von 2002-2019 die folgenden Werte: Ersparnis 4.429,7 Mrd. Euro, Netto-investitionen 1.355,1 Mrd. Euro und Kapitalexporte 3.074,6 Mrd. Euro.Wir leben seitdem unter unseren wirtschaftlichen Verhältnissen, weil wir weniger konsumieren und investieren als produzieren. Insgesamt fallen dabei insbesondere die inländischen Investitionen (private und staatliche) viel zu gering aus. Das Überschussgeld fließt ins Ausland, das so immer tiefer in eine Verschuldung gerät und damit in eine Abhängigkeit von  Deutschland. Gleichzeitig „exportieren“ wir mit unseren Exportüberschüssen Arbeitslosigkeit und schaffen es im Inland trotzdem nicht, Vollbeschäftigung zu erreichen. Mehr pervertierte Wirtschaft geht nicht!
Staatsschulden gleich öffentliche Armut …

Wenn auch Staatsschulden grundsätzlich kein Problem darstellen, so soll hier aber nicht verschwiegen werden, dass eine Kreditaufnahme durch den Staat in der Wirtschaftswissenschaft immer schon ein umstrittenes Thema war. Neben Befürwortern gab und gibt es bis heute auch Kritiker. Ein bedeutender Befürworter war der Finanzwissenschaftler Lorenz von Stein (1815-1890), der mahnte, dass „ein Staat ohne Staatsschuld“ entweder „zu wenig für seine Zukunft“ tue oder „zu viel von seiner Gegenwart“ fordere.4 Die klassischen Ökonomen von Adam Smith (1723-1790) über David Ricardo (1772-1823) bis Karl Marx (1818-1883) standen der Staatsverschuldung dagegen äußerst kritisch ge-genüber. Marx schrieb geradezu spöttisch: „Das System des öffentlichen Kredits, d. h. der Staatsschulden, dessen Ursprünge wir in Genua und Venedig schon im Mittelalter entdecken, nahm Besitz von ganz Europa während der Manufakturperiode. Das Kolonialsystem mit seinem Seehandel und seinen Handelskriegen diente ihm als Treibhaus. So setzte es sich zuerst in Holland fest. Die Staatsschuld, d.h. die Veräußerung des Staats – ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch – drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Länder eingeht, ist – ihre Staatsschuld. Daher ganz konsequent die moderne Doktrin, daß ein Volk umso reicher wird, je tiefer es sich ver-schuldet. Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals.“

Dem widersprach vehement der Kapitalismusretter Keynes mit seiner 1936 erschiene-nen „General Theory“. Ohne eine Staatsintervention mit einer entsprechenden Staatsverschuldung sei das private Kapital auf Grund der „einzelwirtschaftlichen Rationalitäts-falle“ unfähig die Krise zu beheben. Um deshalb den Kapitalismus systemisch fürs Kapital zu erhalten und die Ordnung vor sich selbst zu retten, forderte Keynes in der Krise eine antizyklisch, multiplikativ wirkende Staatsverschuldung. Dies lehnt dagegen heute, völlig widersprüchlich – die kapitalzentrierte und dominante neoklassische/neoliberale Ökonomik unisono ab. Sie setzt in der Krise vielmehr auf die „Selbstheilungskräfte des Marktes“, die eben keine Staatsintervention und damit auch keine Staatsverschuldung nötig hätten. Krisen lösten sich über den Markt-Preis-Mechanismus von selbst auf. Der Staat störe hier nur. Dabei ist Staatsverschuldung in erster Linie nicht das Ergebnis einer „falschen Politik“, sondern einer „falschen Ökonomie“. In der Staatsverschuldung entladen sich lediglich die immanenten kapitalistischen Widersprüche, die durch den Staatskredit mühsam abgemildert werden müssen. Staatsverschuldung ist dabei ein „süßes Gift“, weil bei der Aufnahme von Krediten die entstehende Schuld von niemandem gespürt bzw. wahrgenommen wird. Sie belastet nicht die Einkommen der Privaten. Keinem, außer dem Staat auf dem „Konto Staatsverschuldung“, wird eine Belastung aufgebürdet. Der „Kater“ kommt hier erst später, wenn die Annuitäten (Tilgung und Zinsen) beglichen werden müssen, wenn die Gläubiger ihr Geld zurückverlangen. Hier wird die Rückzah-lung dann gerne auf die lange Bank geschoben und die Staatsverschuldung geradezu „pulverisiert“ oder Staatsschulden werden bei Fälligkeit prolongiert und am Ende noch teurer. Werden beispielsweise 150 Mrd. Euro Kredit vom Staat aufgenommen und diese erst über einen Zeitraum von 50 Jahren zurückgezahlt, dann liegt die jährliche Tilgung und Zinszahlung bei einem nominalen Zinssatz von 3 % (real 1 %, bei 2 % antizipierter durchschnittlicher Inflationsrate) eben nur bei einer gleichbleibenden nominalen Annuität von gut 5,8 Mrd. Euro jährlich, wovon im ersten Jahr 4,5 Mrd. Euro an Zinsen und über 1,3 Mrd. Euro an Tilgung anfallen und sich im Laufe der Zeit die Tilgungsbeträge erhöhen und die Zinsen sinken.
A = K * 𝑞𝑞𝑛𝑛 𝑞𝑞−1 𝑞𝑞𝑛𝑛−1  > A = 150.000.000.000 * 0,031,0350−1=5.829.750.000 𝐸uro

Die insgesamt vom Staat in 50 Jahren zurückzuzahlende Summe für den 150-Milliarden Euro-Kredit liegt dann aber bei gut 291,5 Mrd. Euro und damit die Kosten (Zinszahlungen) des Kredits bei 141,5 Mrd. Euro. Das Vergessen viele zu erwähnen, wenn sie lange Rückzahlungszeiten bei der Staatsverschuldung ins Spiel bringen.

Und bei Staatsverschuldung wird auch nicht nach der entscheidenden Ursache gefragt, nämlich nach der seit gut 45 Jahren in Deutschland vorliegenden Massenarbeitslosigkeit, die Milliardenbeträge an fiskalischen Kosten verursacht, die höher ausfallen als die viel gescholtene Staatsverschuldung. Allein von 2001-2018 (neuere Zahlen liegen noch nicht vor) lagen die Kosten der Arbeitslosigkeit jahresdurchschnittlich bei 66,4 Mrd. Euro und der staatliche Finanzierungssaldo bei -25,3 Mrd. Euro. Hätte demnach Vollbeschäftigung vorgelegen, so hätte es nicht nur keine Staatsverschuldung gegeben, sondern der Staat hätte einen Überschuss von jährlich 41,1 Mrd. Euro erzielt.
6 Arbeitslosigkeit wird aber dennoch von der Politik nicht bekämpft. Die Kapitaleigner akzeptieren das nicht. Vollbeschäftigung macht die Gewerkschaften stark und treibt die Löhne zu Lasten der Profite nach oben. Zur Schließung der Produktions-Produktivitätslücke setzt man lieber auf eine Prekarisierung von Arbeit in Verbindung mit einem Niedriglohnsektor in einer neofeudalen Dienstleistungsgesellschaft. Dagegen könnte der Staat (Politik) eine kollektive Arbeitszeitverkürzung anordnen, und/oder dass alle in der privaten Wirtschaft nicht mehr benötigten und in Folge vom Kapital freigesetzten Arbeitslosen im öffentlichen Sektor beschäftigt werden. Die für Arbeitslosigkeit dann nicht anfallenden Ausgaben und entgangenen Einnahmen stünden hier als Finanzierungsmasse überreichlich zur Verfügung.7

und die Vermögenden zahlen für die Krise nicht

Die Staaten benötigen zur Krisenbekämpfung viel Geld, das sie nicht haben. Und Politik traut sich nicht bzw. will es nicht, die Steuern bei den Hyperreichen zu erhöhen. Also müssen die Staaten Kredite bei den Vermögenden aufnehmen und diese geben gerne ihre „räuberische Überschussersparnis“ (Keynes) her und erhalten dafür Zinsen. So wer-den die Vermögenden nicht über Steuererhöhungen an den Krisenlasten beteiligt und büßen ihre Vermögensbestände ein. Die andere Seite der Medaille ist dann Staatsver-schuldung. Es entsteht eine öffentliche Armut und noch mehr privater Reichtum. Mit den öffentlichen Schulden wächst das private Vermögen. Wie gesagt: Die Summe allen Ver-mögens ist immer gleich groß der Summe aller Schulden. Die Vermögen können nur steigen, wenn auch die Schulden steigen. Der weitweiten Schuldenquote von 322 % in 2019 entspricht eine gleich große Vermögensquote. Der Wert von privaten und staatli-chen Schulden beträgt demnach mehr als das Dreifache der jährlichen weltweiten Wirt-schaftsleistung. Das gilt aber genauso für das hochkonzentrierte Vermögen.8

Zu den Notenbanken

Zusätzlich kommen in der Krise, die von der Politik unabhängigen, aber vom Marktge-schehen abhängigen, Notenbanken ins Spiel. Sie müssen zur Unterstützung die Leitzin-sen senken und den verschuldeten Staaten die fällig werdenden Staatsanleihen abnehmen und sie in ihre Zentralbank-Bilanzen übernehmen. Damit greifen die Notenbanken massiv in die Finanzmärkte und in Folge insgesamt in das Marktgeschehen ein.

Wir erinnern uns, dass in der Finanz-, Immobilien- und Wirtschaftskrise die Notenbanken die Leitzinsen für den privaten Bankensektor massiv gesenkt haben. Und hätte der damalige EZB-Chef Mario Draghi im Herbst 2012 nicht gesagt, dass die Europäische Zentralbank (EZB) alles Notwendige tun werde, um den Euro gegen Spekulanten zu retten, wäre die Euro-Zone längst nicht mehr existent und die EU hätte noch größere Probleme, als sie sie jetzt schon hat. In der Corona-Krise musste der expansive geldpolitische Kurs noch verschärft werden. Allein die EZB hat für die 19 Euro-Länder bis heute bereits für rund 2,9 Billionen Euro notleidende Staats- und Unternehmensanleihen in ihre Bilanz aufgenommen. In den USA und Japan sind es noch ganz andere Größenordnungen. Nur so ist es aber möglich, dass selbst realwirtschaftlich schwache und gleichzeitig hoch verschuldete Volkswirtschaften wie Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Frankreich für weiter notwendige Kredite keine oder sogar nur Negativ-Zinsen zahlen müssen. Würden die Notenbanken nur ein wenig die Leitzinsen anheben und die Übernahmen der fällig werdenden Staatsanleihen einstellen, so käme es zu einem weltwirtschaftlichen Gau.

Die Bilanzverlängerung der Notenbanken erhöht aber die Geldmenge und es droht laut Theorie eine Inflation.9 Diese tritt aber realiter in Form einer Nachfrage- als auch Angebots(macht)inflation nicht ein, weil die gestiegene Geldmenge nicht adäquat abgerufen und in den produzierenden Wirtschaftskreislauf eingebracht wird und auch die weltwei-ten Produktionskapazitäten nicht annährend voll ausgelastet sind. Es fehlt schlicht an weltweitem Wachstum und auch an Produktivität. Die Deutsche Bundesbank stellt dazu in einer aktuellen Untersuchung fest: „Auch im Euroraum verlangsamte sich – bei mitun-ter ausgeprägten Unterschieden zwischen den Mitgliedsländern – der Produktivitätsfortschritt in den letzten 20 Jahren.“10 Realwirtschaftliche Wachstums- und Produktivitätseinbrüche haben durch die Verschuldung die Geldmenge in Relation zur produzierten Warenmenge zu groß werden lassen. Trotzdem kann sie aber keine Inflation auslösen und etwas Entscheidendes kommt hinzu: Die Zinsen bleiben auf Grund des zu großen Geldangebots in Relation nur Geldnachfrage niedrig, was wiederum alle Schuldner, insbesondere die hoch verschuldeten Staaten, erfreut. Sie müssen trotz ihrer hohen Schul-denbestände nur niedrige Zinsen, und u.a. Deutschland sogar nur Negativ-Zinsen, zahlen bzw. die Vermögenden erzielen keine Real-Renditen bei Staatsanleihen (nach Infla-tion) mehr (vgl. die folgende Tab.).

Zieht man davon noch die Steuern ab, so bleibt so gut wie nichts mehr übrig. „Offenes Geheimnis ist“, schreibt der Wirtschaftsjournalist Stephan Kaufmann, „dass die ‚Wäh-rungshüter‘ durch niedrige Zinsen die Kreditwürdigkeit hoch verschuldeter Unternehmen und Staaten erhalten wollen. Auf diese Weise sichern sie die Verschuldungsfähigkeit der Gesellschaft in der Krise, die eigentlich keine höhere Verschuldung rechtfertigt – und gerade deswegen stattfinden muss. Ergebnis: Die ‚EZB finanziert 2021 die gesamte Neuverschuldung der Eurostaaten‘, stellt die Commerzbank fest.“11 Ganz extrem betreibt dabei China die staatliche Verschuldungspolitik und versucht so die Wirtschaft anzukur-beln, was aber nicht nur für China immer schwieriger wird. „Das zeigt: das chinesische Problem ist ein weltweites: Immer mehr Schulden sind nötig, um das Wachstum halbwegs aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig machen die steigenden Schulden ein stärkeres Wachstum eigentlich nötig. Da sich dies nicht einstellt, verschärft sich der Wettbewerb zwischen den Standorten um die Zuwächse, die noch erzielt werden können. Es ist ein Kampf darum, welche Standorte Überkapazitäten abbauen, also Entwertung ihres Kapi-tals erleiden müssen.“12 Auch ist dabei in Folge ein Verlust von vielen Arbeitsplätzen zu verkraften.

Dieser „Aderlass“ an Arbeitsplätzen interessiert aber die Vermögenden nicht. Sie beklagen jedoch ihre Vermögensverluste und die weltweit niedrigen Renditen für im Grund-satz sichere (solide) Staatsanleihen. Sie jammern, weil sie keine Zinsen mehr bekommen. Hier kommt es durch die expansive Geldpolitik der Notenbanken in der Tat zu ei-nem weltweiten atomisierten Kapitalschnitt, von dem jedoch auch die Kleinsparer und die sogenannten „guten Kapitalisten“, die Pensionsfonds und Lebensversicherer, betrof-fen sind und eben nicht nur die wirklich Vermögenden, denen man diesbezüglich keine Träne nachweinen sollte.

Außerdem haben sie Alternativen. Niedrige Zinsen lassen die Aktienkurse und die Preise für andere Vermögenswerte wie Immobilien und Edelmetalle (Gold, Silber, Platin) steigen. 2020 war nicht nur für die Deutsche Börse ein Rekordjahr.13 Die Hyper-Vermögen-den erzielen so aus einem dreifachen Effekt höhere Anlagerenditen als die weniger Vermögenden. Sie schichten erstens ihre Vermögensportfolien einfach um. Zweitens zahlen sie, gemessen an den Erträgen weniger Steuern und drittens sind ihre Einstiegskosten und Verwaltungsgebühren gemessen am hohen Anlagebetrag wesentlich niedriger.14 Und die ganz harten „Zocker“ unter den Vermögensspekulanten steigen sogar in digitale Kryptowährungen ein,15 hinter denen keine Kontrollen von staatlichen Notenbanken ste-hen und durch die außerdem das staatliche Geldmonopol unterminiert wird. Diese Kryptowährungen, wie z.B. Bitcoins, sind vom Grundsatz her nichts anderes als Falschgeld, das quasi widerrechtlich in Umlauf gebracht wird. Anstatt dies sofort zu verbieten, setzt auch die Politik, sozusagen als Gegenmaßnahme, völlig naiv auf digitale Währungen, deren Umlauf übrigens gigantische Strommengen verbraucht. So prüft die Politik in Schweden bereits (ausgerechnet ein Grüner Minister für Finanzmärkte und Verbraucher-schutz) ernsthaft die Wirtschaft komplett auf eine digitale Währung umzustellen. Aber auch Notenbanken in anderen Staaten überlegen ihre Währungen womöglich zu digita-lisieren. Nicht zuletzt die EZB mit einem digitalen Euro. „Und wann kommt der digitale Euro für die 342 Millionen Menschen in der Eurozone? In den Zwillingstürmen der EZB in Frankfurt wird man schmallippig, wenn die Rede auf dieses Thema kommt. Jedes falsche Wort könnte ‚kursbewegend‘ sein, heißt es. EZB-Präsidentin Christine Lagarde, eine Meisterdiplomatin, hat sich eine elegante Formulierung angewöhnt, hinter der sich erst mal alle versammeln können: Wir wollen darauf vorbereitet sein, einen digitalen Euro einzuführen, sollte dies erforderlich werden.“
16 Der Politik sitzen dabei massive Interessen der Unternehmerschaft im Nacken. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) „möge sich beeilen mit dem digitalen Euro – schon, weil die Unternehmen die hohen Kosten für Überweisungen ins Ausland leid seien“, äußerten hochrangige Industrievertreter bei einem vertraulichen Treffen in seinem Ministerium.17

Die Raubzüge der Vermögenden

Die wirklich Hyper-Vermögenden sollten nicht jammern, sondern sich vielmehr die Frage stellen, warum die Realzinsen bzw. die Renditen für Staatsanleihen negativ sind und sie sollten sich fragen, wo denn bitteschön ein Anspruch auf hohe Zinsen geschrieben steht! Sie würden dann feststellen, dass es den nicht gibt und dass ihre „Raubzüge“ in der Vergangenheit die Ursache für die heute niedrigen Zinsen sind. Sie konnten einfach den Hals nicht voll bekommen. Gigantische Umverteilungsorgien von den Arbeits- zu den Kapitaleinkommen (Profite, Zinsen und Grundrenten) waren für sie zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Allein in Deutschland sind von 1991-2019 gut 1,4 Billionen Euro zu den Kapitaleinkommen umverteilt worden.18

Die um Abschreibungen19 bereinigte Lohnquote lag von 1991-2019 jahresdurchschnitt-lich bei nur 56,5 % und damit die Mehrwertquote bei 43,5 % (vgl. die Tab.). Diese Ver-teilungsrelation ist ökonomisch nicht zu rechtfertigen und zeigt überdeutlich, dass sich das Kapital unverschämt an den Wertschöpfungen bedient, die es nicht einmal erarbeitet hat. Und die von den Vermögenden beherrschte Politik (dazu später) sorgte neben der primären Umverteilung von unten nach oben zusätzlich durch Steuersenkungen und Subventionsgeschenke für eine weitere sekundäre Umverteilung zu Gunsten der Kapitaleinkünfte. Von dieser zweifachen Umverteilung profitierten aber nicht nur die Hyperreichen, sondern auch viele Führungseliten in der Wirtschaft (dies waren neben Vorständen und Geschäftsführer auch außertarifliche und leitende Angestellte) sowie gehobene und höhere Angestellte im Staatssektor. Nicht zuletzt sind hier hochbezahlte PolitikerInnen, ProfessorInnen im Wissenschaftsbetrieb und ChefredakteurInnen in den Medien zu nennen und wir wollen bitte auch nicht viele SpitzenverdienerInnen in den freien Berufen (Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater/Wirtschaftsprüfer, Ingenieure, Sportler, Film-schauspieler u.a.) vergessen. Das Sein schafft hier das entsprechende Bewusstsein!

Der ehemalige leitende Ökonom der Forschungsabteilung der Weltbank, Branko Milanović, stellt diesbezüglich allgemein fest: „Der Anteil der Personen, die sowohl ein hohes Arbeits- als auch ein hohes Kapitaleinkommen haben, steigt seit mehreren Jahrzehnten. Im Jahr 1980 gehörten nur 15 % der Personen, die sich gemessen am Kapitaleinkom-men im obersten Dezil befanden, auch beim Arbeitseinkommen diesem Dezil an, und dasselbe galt umgekehrt. Dieser Prozentsatz hat sich in den letzten 37 Jahren verdop-pelt. Man kann davon ausgehen, dass es in einer reinen Version des klassischen Kapitalismus unter den reichsten Kapitalisten praktisch niemanden gab, der zugleich ein ho-hes Arbeitseinkommen erzielte. Diese Personen waren allein dank ihres Kapitaleinkom-mens reich und hatten weder das Bedürfnis noch die Zeit, sich zusätzlich für ein Arbeitsentgelt zu verdingen. Desgleichen konnte im klassischen Kapitalismus kein Lohnarbeiter ein ausreichend hohes Kapitaleinkommen erzielen, um ins oberste Dezil der Kapitalisten aufzusteigen. Aber mittlerweile haben sich die Bedingungen geändert.“20

Dies erklärt dann übrigens auch die in den Medien unisono vorgetragene breite Ableh-nungsfront gegen jegliche Form einer Steuererhöhung. Hier sind es dann eben nicht nur die Hyperreichen, die Sturm laufen. Dennoch haben sich jüngst 83 Millionäre aus sieben EU-Ländern zusammengetan und fordern (lobenswert) von der Politik eine höhere Besteuerung ihrer Einkommen und Vermögen. „Erben ist keine Leistung“, sagt Ralf Suikat, einer der Millionäre und Mit-Initiatoren des Aufrufs.
21 Die herrschende Politik traut sich aber nicht, Steuererhöhungen gegen die Interessen der Vermögenden, selbst in einer Krise als Solidaritätsakt, umzusetzen. In der jetzigen schweren Corona-Krise ist das nicht anders als in der Krise von 2007-2009. So sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei einer Anhörung im Bundestag am 13. Mai 2020 auf die Frage, ob es zu Steuer- und Abgabenerhöhungen zur Finanzierung der jetzt aufgenommenen Staatskredite kommen würde, „aus heutiger Sicht nicht“. Und zynisch fügte sie hinzu, dass sie sich freuen würde, dass der Staat in der Vergangenheit gut gewirtschaftet habe, was die staatlichen Finanzierungsüberschüsse verdeutlichen würden. Genauso argumentiert ihr SPD-Bundesfinanzminister Olaf Scholz.

Hinzu kommt bei Steuerzahlungen noch eine Psychologie des Geldes, erklärt der Sozi-ologe Christoph Deutschmann: „Geld ist nicht bloß ‚Indikator‘ der sozialen Position eines Individuums, sondern begründet diese Position selbst unmittelbar, indem es – in seiner Eigenschaft als ‚Vermögen‘ – umfassende Zugriffsrechte auf den gesellschaftlichen Reichtum eröffnet. Wer Geldvermögen hat, übt sozialen Einfluss nicht kraft seiner Reputation oder seines gesellschaftlichen Ranges aus, sondern verfügt über ein generali-siertes Machtpotenzial, das scheinbar gänzlich ohne soziale Vermittlungen auskommt. (…) So wird das Geld zum Vehikel einer narzisstischen Selbstüberhöhung nach dem Motto: Was mein Geld kann, das kann und bin ich. Dem Vermögensbesitzer erscheint sein Geld als eine natürliche Erweiterung und Verlängerung seines Egos. Deshalb kann er, wenn die Börse abstürzt oder das Finanzamt sich meldet, dies nur als Beschädigung des innersten Kerns seiner Persönlichkeit empfinden. Solche Selbstinszenierungen scheinen besondere Resonanz bei sozialen Aufsteigern zu finden, die ihr Geld als ‚sauer durch eigene Arbeit verdient‘ wahrnehmen.“22

Und auch Keynes hat sich zur „Geldmoral“ im Sinne einer „Akkumulation des Reichtums“ geäußert, als er schrieb: „Wir sollten uns wagen, den Geldtrieb nach seinem wahren Wert einzuschätzen. Die Liebe zum Geld als ein Wert in sich – was zu unterscheiden ist von der Liebe zum Geld als einem Mittel für die Freuden und die wirklichen Dinge des Lebens – wird als das erkannt werden, was sie ist, ein ziemlich widerliches, krankhaftes Leiden, eine jener halb-kriminellen, halb-pathologischen Neigungen, die man mit Schaudern den Spezialisten für Geisteskrankheiten überlässt. Wir werden dann endlich die Freiheit haben, uns aller Arten von gesellschaftlichen Gewohnheiten und wirtschaftlichen Machenschaften zu entledigen, die die Verteilung des Reichtums und der wirtschaftlichen Belohnungen und Strafen betreffen, und die wir jetzt unter allen Umständen, so widerlich und ungerecht sie auch sein mögen, mit allen Mitteln aufrechterhalten, weil sie ungeheuer nützlich für die Förderung der Kapitalakkumulation sind.“23

Staatsverschuldung reicht nicht mehr

Die Vermögenden wollen keine Staatsverschuldung, weil sie daraus folgende Steuererhöhungen befürchten, und sie wollen für ihr Geld gleichzeitig hohe Zinsen und Renditen erzielen. Sie wollen eben Alles. Diese Forderungen gehen aber ökonomisch nicht mehr auf. Schon seit der schweren Finanz-, Immobilien- und Wirtschaftskrise nicht mehr. Und jetzt ist es durch die Corona-Krise noch enger geworden. Die hier entstandenen und weiter noch entstehenden Krisenlasten sind außerdem nur eine Seite der Krise. Es gibt noch eine zweite viel wirkmächtigere Krisenlast aus der bevorstehenden Klima- und Um-weltkrise und der schon seit Langem bestehenden sozialen Krise mit Massenarbeitslosigkeit, Prekariat und Armut; nicht zu vergessen sind dabei die unterlassenen Investitionen in Infrastruktur, Gesundheit und Bildung. Hier besteht in den nächsten Jahren in der EU (auch in Deutschland), ein hoher Euro-Billionen-Bedarf für eine dringend notwendige ökologisch-soziale-Wende, womit das jetzt beschlossene kreditfinanzierte EU-Ausga-ben-Programm in Höhe von 750 Milliarden Euro viel zu gering ausfällt, was auch für den EU-Haushalt von 2021-2027 in Höhe von kumuliert 1.074 Milliarden Euro gilt. Das 750-Milliarden-Euro-Paket der EU soll dabei in 30 Jahren getilgt werden, was bei einem unterstellten Nominalzinssatz von 3 % (real 1 %, 2 % Inflationsrate) und gleichbleibender Annuität über die Laufzeit insgesamt Kreditkosten von 398 Milliarden Euro bedeutet. Geld das sich die Vermögenden und alle Kreditgeber in die Tasche stecken und die Staaten zu zahlen haben. Dies werden sie womöglich leisten können. Die einen, wie Deutschland, wesentlich leichter als andere EU-Länder. Was aber nicht mehr allein über Staatsverschuldung zu leisten ist, sind die notwendigen hohen Euro-Billionenbeträge für eine ökologisch-soziale Wende in Deutschland und der EU.

Alternativen zur Staatsverschuldung

Es gibt daher immer mehr Stimmen, welche die Staatsverschuldung über die Notenban-ken „monetarisieren“ wollen. Dazu gehören einflussreiche Ökonomen wie Larry Sum-mers und Paul Krugman und Anhänger der Denkschule der „Modern Monetary Theory“ (MMT)24 sowie eine Gruppe von Ökonomen in Europa (darunter auch der Franzose Thomas Piketty) die eine „Abschreibung der Staatsschulden“ bei der EZB fordern (siehe Kursiv):

„Wir betrachten,“ so die Gruppe, “den Erlass von Staatsschulden, auch wenn sie von der EZB gehalten werden, nicht als harmloses Ereignis. Wir wissen, dass Schuldenerlasse Momente sind. Dies war der Fall auf der Londoner Konferenz 1953, als Deutschland einen Erlass von zwei Dritteln seiner Staatsverschuldung erhielt, der es ihm ermöglichte, wieder auf den Weg des Wohlstands zurückzukehren und seine Zukunft im europäischen Raum zu verankern. Aber befindet sich Europa heute nicht in einer Krise außergewöhnlichen Ausmaßes, die ebenso außergewöhnliche Maßnahmen erfordert?
Darüber hinaus haben wir das Glück, einen Gläubiger zu haben, der keine Angst hat, sein Geld zu verlieren: die EZB. Unser Vorschlag ist also einfach: Lassen Sie uns einen Vertrag zwischen den europäischen Staaten und der EZB machen. Die Kommission verpflichtet sich, die von ihr gehaltenen Staatsschulden zu tilgen (oder sie in zinslose, ewige Schulden umzuwandeln), während die Staaten sich verpflichten, die gleichen Beträge in den ökologischen und sozialen Wiederaufbau zu investieren. Diese Beträge belaufen sich heute für ganz Europa auf fast 2,5 Billionen Euro. Damit wird endlich den Erwartungen des Europäischen Parlaments und vor allem der Wahrung des Allgemeininteresses entsprochen. Die EZB kann sich das zweifellos leisten. Wie viele Ökonomen eingestehen, kann eine Zentralbank selbst unter denjenigen, die gegen diese Lösung sind, problemlos mit negativem Eigenkapital arbeiten. Sie kann sogar eine Währung schaffen, um diese Verluste auszugleichen, wie dies im Protokoll Nr. 4 im Anhang zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgesehen ist. Zweitens ist die Annullierung rechtlich entgegen den Angaben einiger Verantwortlicher von Institutionen, insbeson-dere der EZB, nach den europäischen Verträgen nicht ausdrücklich verboten.

Einerseits können alle Finanzinstitute der Welt einen Forderungsverzicht vornehmen, und die EZB ist keine Ausnahme. Andererseits ist das Wort „Annullierung“ weder im Vertrag noch im Protokoll über das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) ent-halten. Vielleicht wäre das „gegen den Geist des Vertrags“, aber war das nicht auch der Fall des von Mario Draghi gewollten Quantitative easings? In diesem Zusammenhang zählt nur der politische Wille: Die Geschichte hat uns immer wieder gezeigt, dass die rechtlichen Schwierigkeiten vor den politischen Vereinbarungen verschwinden. Lassen Sie uns schließlich ein Missverständnis ausräumen: Es liegt auf der Hand, dass der Er-lass der öffentlichen Schulden der EZB, auch wenn er von Reinvestitionen abhängig gemacht wird, nicht das A und O jeder Wirtschaftspolitik sein kann. Erstens würde die EZB nur eingreifen, um den Staaten haushaltspolitische Spielräume zu verschaffen und natürlich nicht selbst zu investieren.
Einige glauben, dass die niedrigen oder negativen Zinssätze in ganz Europa ausreichen, um die Staaten dazu zu bringen, sich zu verschulden, um zu investieren. Dies zeigt nicht der stetige Rückgang der durchschnittlichen Staatsverschuldung in der Europäischen Union zwischen 2015, dem Zeitpunkt des Auftretens negativer Raten, und dem Beginn der Gesundheitskrise. Viele Staaten haben ihre Verschuldung reduziert, anstatt trotz negativer Zinssätze Kredite aufzunehmen, um zu investieren. Warum sollte sich das ändern?

Der zwischen den Staaten und der EZB geschlossene Pakt wird diese Strategie der Flucht vor der Verantwortung verhindern. Aber natürlich darf man sich nicht damit zufrie-dengeben: Es müssen weitere Maßnahmen zur Reform der Schulden- und Defizitkrite-rien, des ökologischen und solidarischen Protektionismus, der Steuerreformen zur Verringerung der Ungleichheiten und zur Änderung des Verhaltens, des Impulses für die öffentlichen Investmentbanken und der Reform der Vorschriften über staatliche Beihilfen ergriffen werden. Ein neues europäisches Regieren, insbesondere durch den Übergang zur qualifizierten Mehrheit im Steuerbereich, muss ebenfalls umgesetzt werden. Europa kann es sich nicht mehr leisten, durch seine eigenen Regeln systematisch blockiert zu werden.

Andere Staaten der Welt nutzen ihre Geldpolitik in vollem Umfang, um die Haushaltspo-litik zu unterstützen, wie China, Japan oder die USA. Die Bank von Japan geht sogar so weit, ihre Geldschöpfungsbefugnis zu nutzen, um Aktien direkt am Markt über börsennotierte Indexfonds (ETF) zu kaufen und damit zum größten Investor des Landes gewor-den zu sein. Auch wir müssen darüber nachdenken, die Geldschöpfungskraft der EZB zu nutzen, um den ökologischen und sozialen Wiederaufbau unter demokratischer Kontrolle zu finanzieren. Der Erlass der Staatsschulden im Gegenzug für Investitionen durch die Staaten wäre ein erstes starkes Signal dafür, dass Europa sein Schicksal wiedererlangt.“25

Eine unendliche Geldmengenausweitung durch Gelddrucken wird hier aber bezweifelt, selbst wenn dagegen realwirtschaftliche staatliche Ausgaben gebucht werden. Die Notenbank muss dazu nämlich sogar zweimal Geld drucken. Zum einen um die Staatsanleihen aufzukaufen und zum anderen um die dann von den Staaten getätigten Ausgaben (Investitionen) zu finanzieren. Das kann man kurzfristig sicher machen. Langfristig geht das aber nicht. Es gilt nun mal der ökonomische Lehrsatz, dass Löhne, Profite, Zinsen und Grundrenten, also die Wertschöpfung, am Ende immer durch realwirtschaftliche Produktion, durch Menschen, erarbeitet und auch verkauft werden muss. Hinter jedem Euro, das gilt auch für den Kredit, steht laut Arbeitswerttheorie  26 menschliche Arbeit und menschlich vorgetane Arbeit als in Kapital umgewandeltes Geld. Beim Kredit wird Arbeit zudem von den Schuldnern vorab konsumiert oder investiert, die im Nachhinein erst noch zu leisten und zu tilgen ist.

Öffentliche Leistungen, finanziert durch Kredite, haben (erlösen) aber im Nachhinein am Markt keine Preise, weshalb sie von der Gesellschaft über Steuern und Abgaben an die Gläubiger zurückbezahlt werden müssen. Werden hier die Notenbanken nach der Übernahme der Staatsschulden die neuen Gläubiger, so ändert sich an den werttheoretisch notwendigen Rückzahlungsmodalitäten gar nichts. Die Notenbank kann sich hier aber das dazu notwendige Geld (Liquidität) selbst, durch Gelddrucken, beschaffen, das wo-möglich Staaten am Kapitalmarkt wegen ihrer bereits hohen Verschuldung nicht mehr erhalten. Siehe den jüngsten Fall Griechenland, die 2010 ohne EU-Hilfen Staatsbankrott hätten anmelden müssen.

Durch einen Vermögensschnitt kann jede Notenbank die übernommenen Staatsschulden abschreiben und zahlt dennoch die fällig werdenden Kredite an die Gläubiger aus oder sie prolongiert die Kredite. Dies bedeutet verteilungsmäßig, das die Vermögenden nicht an den Krisenlasten teilhaben. Sie behalten nicht nur ihr Vermögen, im Gegenteil, sie sind am Ende in einer wieder boomenden Wirtschaft auch noch die Haupt-Profiteure und die schon bestehende ungleiche Vermögensverteilung wird noch ungleicher und entsprechend vererbt, wie gerade das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) festgestellt hat.27

Es muss die Vermögenden treffen

Deshalb darf ein Vermögensschnitt nicht über die Notenbank (EZB) vollzogen werden, der nur die Staatskonten entlastet, die Vermögenden aber schont, sondern er muss die Vermögenden treffen und sie zur Kasse bitten. Sie müssen zahlen und wissen, dass auch sie mit einem Vermögensverlust für die Krise zu haften haben und nicht nur die Massen von Menschen, die sich eine Krise überhaupt nicht leisten bzw. bezahlen können. Es geht nicht darum, wie es in dem Ökonomen-Aufruf steht, dass wir von „Glück sprechen können“, einen Gläubiger (EZB) zu haben, der keine Angst hat, „sein Geld zu verlieren“. Nein, die Vermögenden sollen in Zukunft Angst haben, ihr erbeutetes und nicht einmal selbst erarbeitetes Geld einzubüßen, wenn sie meinen, sie könnten weiter auf Kosten der Mehrheit der Menschen „Beute“ machen; dass man ihnen am Ende die „Beute“ wieder wegnimmt. Es darf sich also für sie nicht mehr lohnen. Man muss den Vermögenden ihren Reichtum über einen Vermögensschnitt und/oder über eine Vermögensbesteuerung (einmalig durch eine Vermögensabgabe und/oder kontinuierlich durch eine Vermögensteuer) wegnehmen. Ich plädiere hier für eine Kombination aus allen drei Varianten.

Vermögensschnitt

Um möglichst schnell den Staat von seinen Schulden zu entlasten und ihm neue Ausga-benmöglichkeiten zu verschaffen, sollte zunächst ein Vermögensschnitt, aber nicht über die Notenbanken, sondern über den privaten Bankensektor vorgenommen werden. Hier wird von Gegnern, wozu auch linke ÖkonomInnen zählen, immer wieder vorgetragen, dass dann die Banken in Not geraten würden und es auf Grund des Interbankenmarktes und seiner immanenten Interdependenz zu einer schweren Bankenkrise insgesamt käme. Außerdem würde ein Vermögensschnitt den staatlichen Reformdruck, damit meint man einen neoliberalen Austeritätskurs, sinken lassen.

Zum Austeritätskurs kann man nur sagen, „Gott sei Dank“ findet dann ein solcher verheerender sogenannter „Reformkurs“ zur beschleunigten Rückzahlung der staatlichen Kredite durch Kürzungen der öffentlichen Ausgaben, Sozialtransfers, Renten und Ar-beitseinkommen nicht statt.

Und zur Bankenkrise und einem Vermögensschnitt ist festzustellen, dass die Banken als Institution mit ihrem eh nur niedrigen Eigenkapital überhaupt nicht berührt sind. Bilanz-technisch werden auf der Passivseite der Banken nur das Fremdkapital, die Einlagen der Vermögenden, beschnitten, und eins zu eins auf der Aktivseite der Bilanz die Forderungen (Kredite) berichtigt. Es kommt also lediglich zu einer Bilanzkürzung ohne das die Gewinn- und Verlustrechnungen (GuV) der Banken mit abgeschriebenen (wertberichtig-ten) Krediten aufwandsmäßig belastet würden. Der Vorgang ist für die Banken ergebnisneutral. Also nichts mit einer Bankenkrise, eher kommt es zu einer „Krise“ bei den Vermögenden, weil sie was abgeben müssen. Dies will aber die herrschende Politik nicht. Deshalb beruhigten auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) nach einer Tagesschausendung im Oktober 2008, in Anbetracht der Finanz-, Immobilien- und Wirtschaftskrise und eines befürchteten Bankenruns, die vermögenden Deutschen mit dem Satz: „Machen sie sich keine Sorgen, ihre Einlagen bei den Banken sind sicher.“ Was übrigens zeigt, dass vom Staat nicht die Banken, wie fast alle fälschlich glauben (selbst linke ÖkonomInnen), gerettet werden sollten, sondern vielmehr die Vermögenden mit ihren Einlagen bei den Banken.

Dabei muss noch ökonomisch (normativ) die Frage beantwortet werden, wieviel man den Vermögenden von ihren Einlagen wegnehmen will? Hier schlage ich einen EU-wei-ten einheitlichen und einmaligen Vermögensschnitt in Höhe von 10 % bei einem Freibe-trag von 1 Mio. Euro für Privatpersonen und 5 Millionen Euro für Unternehmen vor. Der Vermögensschnitt gilt selbstverständlich nur für durch Banken ausgereichte Kredite an den Staat (Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungen) und nicht an private Haus-halte und Unternehmen. Ebenso berührt von diesem Vermögensschnitt sind auch Geld-anlagen im Versicherungs- und Schattenbankensektor.28

Der Vermögensschnitt bei den Einlagen läßt sich technisch einfach und schnell durch-führen. Die Banken, Versicherungen und Fonds melden dem Bundesfinanzministerium zu einem rückdatierten Zeitpunkt die persönlichen Einlagenbestände ihrer Kunden und die Banken und Finanzinstitute zeigen ihren Kunden die vollzogenen Wertberichtigun-gen ihrer Einlagen an. Hat demnach z.B. eine Privatperson 1,5 Millionen Euro als Einla-gen bei Banken oder Finanzinstituten (Fonds) hinterlegt, so würden einmalig 50.000 Euro als Vermögensabgabe fällig. Das wären 3,33 % der gesamten Einlage. Und ein Unternehmen mit 10 Millionen Euro liquiden Einlagen müsste einmalig 500.000 Euro oder 5,0 % abführen.

Einmalige steuerliche Vermögensabgabe

Alternativ zum Vermögensschnitt könnte auch eine EU-weite einmalige steuerliche Ver-mögensabgabe auf die liquiden Einlagen im Finanzsektor erhoben werden. Schon einmal ist in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1952 eine Vermögensabgabe (nicht nur auf Bankeinlagen, sondern auf das gesamte Vermögen) durch ein „Lastenausgleichsgesetz“ (LAG) vom 14. August 1952 erhoben worden. Damals sollten damit Lasten infolge des Krieges für Notleidende und die Kosten für die Vertriebenen aus Ostdeutschland ausgeglichen werden. Gerechtigkeit sollte durch Umverteilung dadurch walten, dass diejenigen eine Abgabe zu zahlen hatten, denen trotz des Krieges ein erhebliches Vermögen verblieben war (insbesondere betraf das Immobilien). Der Steuersatz der einmaligen Vermögensabgabe betrug 50 % des berechneten Vermögenswertes mit Stand vom 21. Juni 1948 (dem Tag nach Einführung der D-Mark in den drei westlichen Besatzungszonen) und konnte über 30 Jahre in vierteljährlichen Raten in einen sogenannten staatlichen „Ausgleichsfonds“ eingezahlt werden. Durch die Verteilung der Raten auf viele Jahre betrug die Belastung nur 1,67 % pro Jahr, sodass sie aus dem Ertragswert des betroffenen Vermögens geleistet werden konnte, ohne die Vermögenssubstanz überhaupt angreifen zu müssen.29 Warum soll das nicht auch heute vor dem Hintergrund der hohen Staatsverschuldung auf der einen Seite und einer stark ungleichen Vermögensverteilung auf der anderen Seite möglich sein? Zumal die Vermögensabgabe auch im Grundgesetz Art. 106 Abs. 1 Nr. 5 als eine Bundeseinnahme ver-fassungsrechtlich verankert wurde.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat hier eine solche Vermögens-abgabe auf das Gesamtvermögen der Deutschen im Auftrag der Linkspartei im Deut-schen Bundestag und der Rosa-Luxemburg-Stiftung in einem Gutachten erstellen lassen.30 Demnach könnten 310 Mrd. Euro bei den reichsten Deutschen (0,7 % der erwachsenen Bevölkerung) vereinnahmt werden. Die Abgabe soll über 20 Jahre in Raten ab-bezahlt werden. Hohe Freigrenzen schützen dabei das Netto-Betriebsvermögen (Brut-tovermögen minus Schulden) bis 5 Mio. Euro und das Netto-Privatvermögen bis zu 2 Mio. Euro. Die Linkspartei will die Vermögensabgabe staffeln, die bei 10 % beginnt und ab einem Vermögen von 100 Mio. auf 30 % stetig ansteigt. Beispielrechnungen zei-gen dabei für einzelne Steuerpflichtige die einmaligen Abgaben gesteckt über 20 Jahre auf. So würde ein Eigenheimvermögen von 2,5 Mio. Euro und weiteren 500.000 Euro sonstigem Privatvermögen sowie einem Betriebsvermögen von 2 Mio. Euro eine Ge-samtabgabe von 101.000 Euro anfallen. Dies entspräche 2 % des Nettovermögens. Bei einer jährlichen Ratenzahlung wären das 6.177 Euro oder 0,1 % vom Nettovermögen. Also nicht viel. Bei einem extrem hohen Privatvermögen von 1 Milliarde Euro sieht das dann allerdings anders aus. Hier beläuft sich die einmalige Vermögensabgabe auf 288 Mio. Euro bzw. 28,8 % vom Nettovermögen und bei jährlicher Zahlung über 20 Jahre wären es 17,6 Mio. Euro oder 1,8 % vom Nettovermögen.

Kontinuierliche Vermögens- und Erbschaftssteuern

Neben einer einmaligen Vermögensabgabe sollte auch eine EU-weite kontinuierlich er-hobene Vermögens- und Erbschaftssteuer festgelegt werden. Der bekannte französi-sche Ökonom Thomas Piketty schlägt hier eine progressive Besteuerung vor. „Sie ver-hindert, dass die Ungleichheitsspirale sich endlos weiterdreht, während sie die Kräfte des Wettbewerbs nicht beeinträchtigt und den Anreiz zu neuer Akkumulation aufrecht-erhält. Zum Beispiel haben wir die Möglichkeit eines Steuertarifs erwähnt, der 0,1-0,5 % pro Jahr für Vermögen unter 1 Mio. Euro, 1 % zwischen 1 und 5 Mio., 2 % zwischen 5 und 10 Mio. vorsähe und auf 5-10 % pro Jahr für Vermögen von mehreren 100 Mio. oder mehreren Mrd. Euro steigen könnte. Das würde dem unbegrenzten Anwachsen der globalen Vermögensungleichheiten Einhalt gebieten, die derzeit in einem Tempo zunehmen, das auf lange Sicht nicht mehr tragbar ist und selbst die glühendsten Verfechter der Idee vom sich selbst regulierenden Markt mit Sorge erfüllen sollte. Derart unverhält-nismäßige Vermögensungleichheiten, auch das lässt sich aus Geschichte lernen, haben mit dem Geist des Unternehmertums nichts mehr zu tun, und sie sind dem Wachstum alles andere als zuträglich. Sie haben, anders gesagt, keinerlei Gemeinnutzen …“31

Auch die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik schlägt seit langem eine Vermögensteuer und drastisch zu erhöhende Erbschaftsteuern vor. Der Steuersatz der Vermögensteuer sollte ein Prozent betragen und auf Vermögen von mehr als einer Million Euro (bei gemeinsamer Veranlagung von EhepartnerInnen das Doppelte bis das Ehegattensplitting ausläuft) zur Anwendung kommen. Je Kind sollte ein Freibetrag von 200.000 Euro gewährt werden.32 Das Volumen der Erbschafts- und Schenkungssteuern lag 2019 bei nur knapp 7,0 Mrd. Euro. Das waren mal gerade 0,2 % des nominalen BIP und 0,27 % des Volkseinkommens. Hier sollte mindestens ein Prozent des jeweils jährlichen Volkseinkommens, das wären 2019 knapp 26,0 Mrd. Euro gewesen, zur Besteuerung kommen. Erbschaften und Schenkungen bis zu 500.000 Euro sollten dabei als Freigrenzen festgelegt werden.

Und wer soll das alles umsetzen?

Von allen Lösungsansätzen wollen natürlich die Vermögenden und ihre Verbündeten in der Politik nichts wissen. Hier kommt es mit Theodor Adorno (1903-1969) und Max Horkheimer (1895-1973) zu einer „privilegierten Komplizenschaft“. Es geht gesellschaftlich um eine Machtfrage und die Macht haben die Vermögenden, die längst auch den Staat (Politik) beherrschen. Macht ist in einer Gesellschaft natürlich sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft zur Durchsetzung von Zielen notwendig. Sie muss aber demokra-tisch verliehen sein und ebenso demokratisch kontrolliert werden, und es darf auf keinen Fall zu einem Machtmissbrauch kommen. In politisch demokratischen Ordnungen ist nur der Staat als gesellschaftlicher Überbau demokratisch zur Machtausübung legitimiert. In der marktwirtschaftlich-kapitalistisch orientierten Wirtschaft herrscht jedoch bis heute, bis ins 21. Jahrhundert, geradezu selbstherrlich das „personifizierte Kapital“ (Karl Marx), insbesondere gegen die vom Kapital abhängige und zur Mehrwertproduktion ausgebeu-tete Arbeitskraft.
Gerade hat das Statistische Bundesamt festgestellt, das 8 % der Erwerbstätigen ab 18 Jahren in Deutschland armutsgefährdet sind. Demnach bekamen 3,1 Mio. Menschen für ihre Arbeit nur einen Lohn, der unterhalb von 60 % des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung lag. Aber auch auf den Güter- und Dienstleistungsmärken, neuerdings auch auf den Digitalmärkten und nicht zuletzt auf den Finanzmärkten hat sich eine ungeheure Macht etabliert. Immer größere Konzentrations- und Zentralisationsprozesse, damit in Folge die Möglichkeit zu immer mehr Machtmissbrauch, haben das idealtyp-sche marktwirtschaftliche Leistungs- und Wettbewerbsprinzip längst ad absurdum geführt. Der ehemalige Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland und International, Thilo Bode, spricht heute in einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Machtkonzentration in der Wirtschaft zu Recht von einer „Diktatur der Konzerne“.33

International agierende Multiunternehmen sind mächtiger als Staaten. Dazu nur ein Bei-spiel: Das größte deutsche Unternehmen und gleichzeitig der größte Autobauer der Welt, der VW-Konzern (schon immer in Skandale verwickelt), erzielte 2019 einen Um-satz von 252,6 Mrd. Euro. Die Beschäftigtenzahl lag bei 671.200. Pro Kopf betrug demnach der Umsatz 376.341 Euro. Im Vergleich dazu kam das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland je Erwerbstätigen nur auf 76.190 Euro und je Einwohner auf 41.508 Euro. Von 2010 bis 2019 legte bei VW der Umsatz um 99,1 % zu; das deutsche Bruttoinlands-produkt nur um 34,5 %. Und von 2010 bis 2019 kam es bei VW zu einem Beschäftigten-wachstum um 72,8 %, während die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland im gleichen Zeitraum lediglich um 10,3 % zulegte. Das Eigenkapital des VW-Konzerns lag 2019, trotz Milliardenstrafzahlungen in zweistelliger Höhe infolge des Abgasskandals, bei immer noch 123,7 Mrd. Euro, und der Gewinn vor Steuern betrug 15,6 Mrd. Euro, was einer Profitrate von 12,6 % entsprach.

Es ist doch völlig klar, dass solche Marktgiganten, und da ist VW nicht einmal der Größte weltweite Player, der Politik, den Staaten, die Gesetze diktieren. Sie zahlen kaum Steuern, schädigen die Umwelt und verstoßen gegen Menschenrechte. Darüber hinaus ver-langen diese übermächtigen Giganten auch noch beste öffentliche Infrastruktur, Subventionen und deregulierte Arbeitsmärkte. Der Staat soll den Unternehmen gefälligst billigste Arbeitskräfte zuführen und ihr gegebenes „Investitionsmonopol“ (Erich Preiser) ab-sichern. Für die riesigen volkswirtschaftlichen Schäden, die diese Unternehmensgiganten anrichten, haften die Eigentümer der Konzerne nicht. Sie kennen nur einen Trieb: maximale Profitraten. „300 %, und es existiert kein Verbrechen, das es (das Kapital, HJB) nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens“ nicht.34

Und dieser Profittrieb macht selbstredend vor dem demokratisch verfassten Staat nicht Halt. Politik hat heute so gut wie nichts mehr zu sagen. Der verstorbene Bundesbank-präsident Hans Tietmeyer sprach es 1996 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor vielen Staatspräsidenten aus der ganzen Welt unverhohlen aus, als er sagte: „Ich habe bisweilen den Eindruck, dass sich die meisten Politiker immer noch nicht darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden“. Auch der bekannte französische Finanzwissen-schaftler Marc Chesney kommt in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) zu einem verheerenden antidemokratischen Befund: „Die Finanzlobbys sind in der Lage, ihre Interessen der Gesellschaft aufzuzwingen.“ Und 2020 sagte der aus dem Macron-Kabinett zurückgetretene französische Umweltminister Nicolas Hulot in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau auf die Frage, warum er sein Amt aufgegeben habe: „Ich merkte, dass die Politik entmachtet worden ist durch die Finanzwelt.“

Man könnte hier Hunderte weitere Belege für die Ohnmacht der Politik gegenüber der Herrschaft der Kapitalmächtigen und Plutokraten in der Wirtschaft anführen. Warum schafft es die Politik nicht, das weltweit vagabundierende und hochkonzentrierte Kapital an die „Kette“ zu legen? Warum wurden die Finanzmärkte liberalisiert? Warum kann die Politik die vielen unsäglichen Steueroasen nicht schließen? Warum gibt es bis heute nicht einmal eine Finanztransaktionssteuer und in Deutschland seit 1997 keine Vermö-genssteuer mehr? Warum beseitigt die Politik die Massenarbeitslosigkeit nicht? Warum hat die Politik einen Niedriglohnsektor geschaffen? Warum dürfen die Beschäftigten in den Unternehmen nicht mitbestimmen? Und so weiter und so fort. Karl Marx würde über diese Fragen nur lächeln. Er nannte den bürgerlichen Staat und seine Politiker „Büttel“ und einen „Ausschuss“ zur Durchsetzung von Kapitalinteressen gegen die Arbeiter-klasse. Marx erkannte dabei überdeutlich die kapitalismusinhärente Konzentration und Zentralisation des Kapitals; das Gesetz der erweiterten Akkumulation durch eine stetige Verwandlung des von den Arbeitern produzierten Mehrwerts in Kapital. Davon kann sich der Staat, kann sich Politik, nicht entkoppeln. Der Staat ist „Gefangener des Systems“ und kein „neutraler Akteur“ auf dem kapitalistischen Spielfeld. Er ist allenfalls der „ideelle Gesamtkapitalist“ (Friedrich Engels).

Das alles macht deutlich, dass es weder zu einem Vermögensschnitt, noch zu einer Vermögensabgabe und in Deutschland zu einer Wiedereinführung einer Vermögen-steuer kommt. Hochwahrscheinlich ist mit einer Austeritätspolitik zu rechnen. Man muss dann aber auch zur Kenntnis nehmen, dass weder eine sozial gerechte Verteilung der Lasten aus der Corona-Krise erfolgt, noch eine dringend notwendige ökologisch-soziale Transformation möglich sein wird. Die Verteilungskämpfe um die Wertschöpfungen wer-den noch härter ausgetragen werden. Nicht nur zwischen Arbeit und Kapital, sondern auch innerhalb der Klassen. Es wird zu einer noch größeren Spaltung in Arm und Reich in der Gesellschaft mit am Ende womöglich nicht mehr beherrschbaren politischen Ver-hältnissen kommen.35 Und am Ende will keiner dafür die Verantwortung übernehmen. Wir Deutschen kennen das noch aus dem Jahr 1945.

Abgeschlossen Februar 2021, Prof. em. Dr. Heinz-J. Bontrup

Erstveröffentlichung in „ReWir“ Beiträge zu Recht und Wirtschaft Nr. 56/2021 der Westfälischen Hochschule, Fachbereich Wirtschaftsrecht (dort sind auch die zugehörigen Fußnoten, Tabellen ud Grafiken einsehbar)

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