30 Mrz 2015

Es geht auch anders – Perspektiven für eine andere Politik

von Wilhelm Neurohr

 

Perspektiven-Kongress der Zivilgesellschaft in Berlin (Mai 2004)
Ein zeitloser Rückblick

Etwa 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz unterschiedlichen Bereichen und Altersgruppen und von 83 mitveranstaltenden und unterstützenden Organisationen erlebten und gestalteten vom 14. bis 16. Mai 2004 ein gelungenes Experiment und knüpften ein neues Bündnis, um über Protest und Gegenwehr hinaus gemeinsam politische Perspektiven und konkrete Alternativen zur vorherrschenden neoliberalen Politik in Deutschland zu entwickeln, zusammen mit Teilnehmern auch aus Österreich und der Schweiz.

Nach den offenen, hierarchiearmen Methoden der Weltsozialforen  – und mit dem Ziel der erstmaligen Durchführung eines deutschen Sozialforums im kommenden Jahr – wurden im Gebäude der technischen Universität am Potsdamer Platz in Berlin 130 Einzelveranstaltungen zu 15 Themenfeldern sowie gemeinsame Plenums- und Kulturveranstaltungen angeboten. Zu den Mitveranstaltern gehörte außer den Gewerkschaften, dem globalisierungskritischen Netzwerk Attac, den Sozialverbänden, sozialen und kirchlichen Gruppen, humanistischen und Menschenrechtsorganisationen, Arbeits­loseninitiativen, Bürgerinitiativen, Friedens- und Frauengruppen sowie wissenschaftlichen Vereinigungen und Forschungsinstituten auch das Netzwerk Dreigliederung (vertreten durch Sylvain Coiplet, Stefan Reeder, Michael  Wilhelmi und Wilhelm Neurohr).

Aufgegriffen wurde der Apell des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau: „Wir müssen den Primat der Politik wiedergewinnen – einer Politik, die sich an Werten orientiert und die sich nicht darauf beschränkt, tatsächliche oder vermeintliche Sachzwänge zu exekutieren“. Denn kein demokratischer Staat hält es auf Dauer aus, wenn sich immer stärker eine Haltung des „wir da unten, ihr da oben“ festsetzt.

Die Teilnehmerinne und Teilnehmer wehrten sich gegen eine Politik der Alternativlosigkeit, denn Demokratie lebt von Alternativen. Solche wurden auf dem Perspektivenkongress aus verschiedenen Blickwinkeln reichlich aufgezeigt. Es wurde sichtbar: Es gibt noch Zukunftsentwürfe und Gestaltungswillen. Wir müssen den Primat der Politik wiedergewinnen – einer Politik, die sich an Werten orientiert und die sich nicht darauf beschränkt, tatsächliche oder vermeintliche Sachzwänge zu exekutieren.

 

„Ökonomische Kräfte bedrohen die Freiheit des Einzelnen“

Zwei Tage vor dem Berliner Perspektiven-Kongress, der auch die Impulse der großen zivilgesellschaftlichen Demonstration vom 3. April mit 500.000 Teilnehmern gegen den Sozialabbau und für ein soziales Europa fortführen wollte (siehe Kurzbericht an anderer Stelle), hatte der scheidende Bundespräsident Johannes Rau – passend zum Kongressthema – in seiner letzten Berliner Rede „die anhaltende Wirkungslosigkeit all dessen, was die Arbeitslosigkeit beseitigen soll“, als Vertrauen zerstörende Politik bemängelt. Der Bundespräsident wörtlich: „Unser demokratischer Staat ist mehr als ein Dienstleistungsbetrieb und auch mehr als eine Agentur zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes. Der Staat schützt und stärkt die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger auch vor den gesellschaftlichen und ökonomischen Kräften, die die Freiheit des Einzelnen längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit.“ In den Debatten über Reformen werde allzu oft das Gemeinwohl vorgeschoben, wo es um nichts als Gruppenegoismus, um Verbandsinteressen oder gar um erpresserische Lobbyarbeit gehe. Rau äußerte zudem deutliche Kritik am Verhalten derer, „die in wirtschaftlicher oder öffentlicher Verantwortung stehen, ungeniert in die eigene Tasche wirtschaften. Das Gefühl für das, was richtig und angemessen ist, scheint oft verloren gegangen zu sein.“

 

Es gibt noch Zukunftsentwürfe und Gestaltungswillen

Kein demokratischer Staat halte es auf Dauer aus, wenn sich immer stärker eine Haltung des „wir da unten, ihr da oben“ festsetze, so Rau. Noch nie in der deutschen Nachkriegsgeschichte hätten so wenig Menschen Vertrauen in die Politik einer Regierung gehabt, und noch nie hätten gleichzeitig so wenige geglaubt, die Opposition könne es besser. „Wir müssen den Primat der Politik wiedergewinnen – einer Politik, die sich an Werten orientiert und die sich nicht darauf beschränkt, tatsächliche oder vermeintliche Sachzwänge zu exekutieren. Politik muss wieder zeigen, dass es sie gibt und dass sie etwas für die Menschen bewirken kann.“

Der Bundespräsident forderte nachdrücklich, es müsse in der Politik deutlich werden, dass es noch Zukunftsentwürfe und den nötigen Gestaltungswillen gebe. Genau darum ging es den zahlreichen engagierten Vertretern der Zivilgesellschaft auf dem dreitägigen Perspektivenkongress. Dort fand der zeitgleiche Appell des Bundespräsidenten sein Echo in einer kreativen Ideenschmiede; bei der Abschlussver­anstaltung kam so etwas wie eine soziale Aufbruchbestimmung auf. Eine neue soziale Bewegung formierte sich, die Menschen aus unterschiedlichen politischen Kulturen generationenübergreifend zusammenführt. Hier wurde der „Grundstein gelegt für ein dauerhaftes Bündnis verschiedener Milieus und unterschiedlicher politischer Kulturen“, wie es ein Mitveranstalter formulierte. Sogar über eigene Medien wird nachgedacht, solange politische Alternativen zur Überwindung der Spaltungstendenzen in der Gesellschaft in den herrschenden Medien totgeschwiegen und die Anliegen der sozialen Bewegung nicht in die Öffentlichkeit transportiert werden. Das Vernetzungstreffen am Ende des Kongresses war mit 130 Teilnehmenden überfüllt. „Der Wille zur Zusammenarbeit war mit Händen greifbar und prägte die gute Stimmung auf dem Kongress“, so beschrieb es Mitinitiator Niko Stumpfögger.

 

Gegen eine Politik der Alternativlosigkeit: Demokratie lebt von Alternativen

Hätten sich außer Christoph Ströbele von den Grünen noch andere Bundespolitiker  dazu herabgelassen, den Perspektivenkongress zu besuchen, sie hätten einen reichhaltige Fundgrube an innovativen und sozial phantasievollen Ideen und Alternativen vorgefunden. Statt den angeblichen Mangel daran zu beklagen, hätten sich daraus bedienen können. Denn eine Politik, die vorgibt, sie sei alternativlos, verabschiedet sich aus der Demokratie, die ja von Alternativen lebt – Alternativen, die unbewusst auch viele Schnittstellen zu Themen, Ansätzen und Betrachtungsweisen  der sozialen Dreigliederung enthielten, wenn man genauer hinhörte oder die dortigen Publikationen las: z.B. von der gemeinnützigen Initiative für natürliche Wirtschaftsordnung, die für eine neue Geld- und Bodenordnung eintritt.

Dass es vielfältige Alternativen zur derzeitigen Politik gibt, bewiesen die zahlreichen Workshops, Vorträge, Podiumsdiskussionen und Foren. In den meisten Medien wurde der Kongress leider totgeschwiegen – und das trotz prominenter Unterstützung und bekannter Namen. Teilnehmer waren unter anderen die  Gewerkschaftsvorsitzenden Frank Bsirske ( ver.di), Jürgen Peters (IG Metall) und Klaus Wiesenhügel (IG Bau), der katholischen Sozialethiker  Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach. Weitere Namen: Sven Giegold von Attac, die italienische Gastrednerin Luciana Castellina von Il Manifesto, Prof. Ariel Salleh als Gast aus Australien und der aus Wien angereiste Prof. Dr. Ewald Nowottny. Vertreten war auch das ganze namhafte Spektrum der Wissenschaftler mit alternativer Ausrichtung, von der sogenannten „Memorandumgruppe“  alternativer Ökonomen bis zu bekannten Zukunftsforschern. Genannt seien Namen wie Prof. Elmar Altvater, Prof. Jörg Huffschmid, Prof. Bodo Zeuner (der auf seine wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der Präsident­schaftskandidatin Gesine Schwan hinwies), Prof. Max Fuchs vom deutschen Kulturrat u.v.m.

Das vertiefte Ringen um Alternativen und Perspektiven fand insgesamt mehr in den Kleingruppen und 130 Einzelveranstaltungen statt, quer durch das gesamte Themenspektrum aller Zukunftsfragen. Die umfassenden Themenachsen reichten von den Fragen zu Beschäftigung und Wachstum über die Entwicklung der Finanzmärkte bis zu einer alternativen Steuerpolitik, von der Zukunft von Arbeit und Einkommen über den Konflikt zwischen Markt und Demokratie bis hin zur Zukunft des Sozialstaates. Breiten Raum nahmen aber auch die Fragen von Bildung, Kunst und Medien sowie einer freien Informationsgesellschaft ein, ferner der Verlust des Sozialen, die Gefährdung öffentlicher Güter, die Fragen von Krieg und Frieden, die ökologischen Fragen sowie Themen der sozialen Innovation und der Vernetzung. Das integrierte Kulturprogramm mit politischem Theater, Film und Kabarett, mit einem Forum bildender Künstler, mit Performance, Musik, Tanz und Theater fand großen Anklang und bereicherte den Kongress, ebenso die zahlreichen Info-Stände der verschiedenen beteiligten Organisationen und Initiativen im Foyer, die auch als Treffpunkt dienten.

 

Vorbereitung für ein nationales Sozialforum in Deutschland im Gange

Der Versuch, einen inhaltlichen Abriss der wichtigsten Ergebnisse der breit gefächerten Veranstaltung zu geben, kann hier nur bruchstückhaft und teilweise subjektiv sein. Im Internet unter www.perspektivenkongress.de  können jedoch sowohl der Kongress-Reader mit dem gesamten Programm als auch die wichtigsten Verlaufs- und Ergebnisberichte abgerufen werden. Zudem ist die Herausgabe einer umfangreichen Kongress-Dokumentation auch in Buchform in Vorbereitung.

Darüber hinaus ist der Vorbereitungsprozess für ein Sozialforum in Deutschland für den Sommer 2005 im Gange: Das erste bundesweite Vorbereitungstreffen findet bereits vom 17.-18. Juli 2004 im DGB-Haus in Frankfurt/Main, Wilhelm-Leuschner-Str. 69 statt. (Internet­adresse der Initiative: www.dsf-gsf.org). Zugleich laufen die Vorbereitungen für das 3. Europäische Sozialforum vom 14.-17. Oktober in London.

Ferner treffen sich am 20. Juni in Berlin die Initiatoren der „Wahlalternative 2006“ und der „Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“. Diese fanden – obwohl sich inzwischen 7000 Interessenten bei der Initiative gemeldet haben – auf dem Perspektivenkongress nicht nur Zuspruch für ihr bemerkenswertes Vorhaben, zur Bundestagswahl und eventuell schon 2005 in NRW zur Landtagswahl anzutreten. Mancher Kritiker mag dabei an die parlamentarische Entwicklung der Grünen und der PDS in Berlin gedacht haben. Für entscheidend wurde jedenfalls von den meisten das außerparlamentarische Bündnis und das Entwickeln konkreter Aktionen zur Umsetzung der in Berlin erarbeiteten Ideen erachtet. Das soll vor allem über die rege Beteiligung an lokalen und regionalen Sozialforen geschehen. Deshalb setzt das Trägerbündnis nun auf Regionalisierung: Lokale Veranstaltungen zu Themen, die auch den Perspektivenkongress geprägt haben, sollen jetzt folgen und die örtlichen Bündnisse stärken.

 

Wegweiser in eine soziale Zukunft mit mehr Gerechtigkeit

Große Aufmerksamkeit und hohe Bestellzahlen erreichte nach einer Buchvorstellung auf dem Berliner Perspektivenkongress das im Mai 2004 neu erschienene Buch von Stephan Hebel und Wolfgang Kessler (Hrsg.): „Zukunft sozial: Wegweiser zu mehr Gerechtigkeit“, in der Verlagsgemeinschaft von Verlag Publik-Forum (Zeitung kritischer Christen) und Frankfurter Rundschau, unter ISBN 3-88095-137-3 erhältlich. Es enthält zukunftweisende Beiträge mehrerer Autoren zu den aktuellen Problemen und Herausforderungen, über die notwendige Respektierung des mündigen Menschen, über die Krise des Sozialstaates und der Sozialversicherungen und deren wahre Ursachen. Thematisiert werden die „Gehirnwäsche light“ durch den Sprachmissbrauch der Verfechter des Sozialabbaus, die populären, aber falschen Begründungen für diesen Abbau und die Tabuisierung der unbequemen Wahrheiten in der Wirtschaft.

Anhand von Modellen, Beispielen und des Vergleiches europäischen Wirtschaftsmodelle und ihrer Renten- und  Bürgerversicherungen werden die Vorteile einer engen Kooperation aufgezeigt. Es werden Vorschläge für das „Wunder der gerechten Rente“ und für eine Politik gemacht, die verhindern soll, dass die soziale Situation des Elternhauses zu sozialer Benachteiligung der Kinder führt. Gerechte und einfache Steuern werden „als Tor in die Freiheit“ dargestellt, geworben wird für eine aktive Finanzpolitik, die Arbeit, Umwelt und Gerechtigkeit dient. Heide Simonis ist mit einem Beitrag „Anders steuern – das Gemeinwesen stärken“ vertreten. Wir finden Vorschläge für einen sozialverträglichen Schuldenabbau und für eine global gerechte Mindeststeuer gegen Steuerflucht als Mittel einer modernen Finanzpolitik.

Im letzten Teil des Buches schließlich werden Visionen einer neuen Arbeitsgesellschaft und Orientierungen für eine neue Beschäftigungspolitik skizziert („Nur für Geld arbeiten ist wie Autofahren ohne Stoßdämpfer“). Außerdem geht es um die Idee einer Bürgerversicherung als Grundeinkommensversicherung für Erwachsene und Kinder. Vier Säulen einer Rentenreform  werden vorgestellt, eine Pflichtversicherung für alle Bürger als „politische Heilkunst gegen den Verfall“ wird empfohlen. Eine solidarische und gerechte Krankenversicherung soll allen dienen, die „in einem Boot sitzen“. Im Schlusskapitel über Strategien und Widerstände wird die schwierige Durchsetzbarkeit von Reformen themati­siert („die Gier zerfrisst die Gehirne“). Es wird aufgezeigt, wie Wirtschaftsinteressen die Demokratie untergraben („Die stille Macht scheut das Licht“). Soziale Politik müsse immer neu erkämpft werden. Es gebe Alternativen gibt, die nur nicht zur Kenntnis genommen würden. „Befreiungsschläge allerorten“ seien nötig, eine neue Außerparlamentarische Opposition müsse das Abdriften nach rechts verhindern. Es gehe um eine neue Sozialbewegung unter der Fragestellung: „Wer rettet die Solidarität?“

 

Verlust des Sozialen: Schmelzende Solidarität durch Zerfall des sozialen Zusammenhaltes und Wertewandel

So lautete auch der Auftaktvortrag im vollbesetzten Audimax von Prof. Friedhelm Hengsbach zu Kongress­beginn am Freitagabend: „Die Solidarität schmilzt nicht von selbst“. Nach einer ideologiekritischen Betrachtung des vorherrschenden Gesellschafts- und Politikmodells  befasste sich die Eröffnungsrede mit dem Zerfall des sozialen Zusammenhaltes und der Umwertung der Werte. Die zweite Rede von Luciana Castellina aus Italien hinterfragte den Anspruch des neoliberalen Gesellschaftsentwurfs, Modell der Befreiung und der Veränderung zum Nutzen der Gesellschaften und der Menschen zu sein.

Solche Gesellschaftskritik war auch das Thema des anschließenden Eröffnungspodiums mit dem IG-Metall-Vorsitzenden Jürgen Peters, mit Pedram Shayar von Attac, Bettina Wasserlos-Strunk vom Reformierten Bund, Gustav Horn vom DIW Berlin und der freien Publizistin Mechthild Jansen. Taz-Redakteurin Bascha Mika moderierte im Stil von Sabine Christiansen – den sie erklärtermaßen gerade nicht kopieren wollte -, und zog damit einige Kritik auf sich. Danach musste sich der Kabarettist Peter Grohmann erst einmal Gehör verschaffen, weil sich Diskussionsgrüppchen gebildet hatten und andere dem Saalausgang zustrebten.

 

Ein arbeitsreicher Samstag der sozialen Innovation: Der Fluch der Finanzmärkte und das Geheimnis des Geldes

Der arbeitsreiche Samstag begann wegen mangelhafter Ausschilderung der Veranstaltungsräume erst einmal mit der Raumsuche. Ab 9 Uhr dann vielfältige Workshops, Vorträge und Diskussionsrunden. Das wurde dem Anspruch des Perspektivenkongresses gerecht, wirkliche Zukunftsalternativen zu entwickeln oder vorzustellen, seien es Wege zu mehr Beschäftigung oder wirtschaftspolitische Alternativen zur Agenda 2010, zu Staatsverschuldung und Sozialabbau. Die Gruppe Alternative Wirtschaftspolitik setzte sich mit zentralen Projekten im Bereich der Gesundheits-, Renten- , Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik auseinander. Sven Giegold von Attac stellte das Konzept einer solidarischen Einfachsteuer vor.  Zum Thema der Finanzmärkte gehörte  auch  ein Beitrag zu der Frage, was Initiativen im Norden zur Befreiung des Südens aus der Schuldenfalle – in die 60 Länder hineingedrängt worden sind – durch faire Entschuldung beitragen können. Das DGB-Bildungswerk ging der Frage nach weltweiten Sozialstandards nach.

Die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde unterbreitete Vorschläge für eine Reform der Sozialversicherungen, und ein anderer Workshop befasste sich mit der Bürgerversicherung als Baustein einer effizienten und gerechten Sozialpolitik. Der ver.di-Fachbereich Gesundheitspolitik unterbreitete solidarische Perspektiven zur Zukunft des Gesundheitswesens. Für die kommunale Ebene wurde von Attac Deutschland die Einführung eines Beteiligungshaushaltes nach dem Vorbild der Stadt Porto Alegre empfohlen.

Kenawi Samirah von Attac Berlin erzählte auf spannende Weise über die Geheimnisse des Geldes und die gestörten Verteilungsmechanismen;  Peter Wahl von WEED zeigte eine emanzipatorische Strategie für eine Reform der internationalen Finanzmärkte mit verschiedenen Reformansätzen einschließlich der Tobin-Steuer und deren Realisierungschancen auf.

 

Neuer zukunftsfähiger Arbeitsbegriff und existenzsicherndes Mindesteinkommen für alle

Mit dem sinnvollen Umbau der Arbeitsgesellschaft und einen zukunftsfähigen Begriff von Arbeit sowie mit dem Problem des Niedriglohnsektors setzte sich ein weiteres Podium auseinander. „Arbeit darf nicht arm machen.“ Die ver.di-Bundesverwaltung thematisierte „Gestaltungsoptionen für die Arbeit von heute und morgen“. Das ifat-Institut Hamburg für Arbeit und Technik entwarf Zukunftsvisionen und Szenarien für Arbeit und Leben im Jahre 2015. Institute aus Berlin und Gelsenkirchen entwarfen einen neuen gesellschaftlichen, nicht nur technisch-ökonomischen Innovationsbegriff. Andere befassten sich mit den Chancen und Notwendigkeiten einer Arbeitszeitverkürzung, wieder andere mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes und der Frage der Verteilungsgerechtigkeit.

Zwei Workshops thematisierten ein existenzsicherndes Mindesteinkommen für alle als gesetzlicher Mindestlohn oder Grundeinkommen in Form von Bürgergeld, es gab auch eine Leitbild-Diskussion über die verschiedenen Modelle. Die Initiative kreativer Erwerbsloser für vernetzte Projekt- und Stadtteilarbeit befasste sich mit dem Arbeitsmarkt von unten und mit einer Personal Service Agentur der anderen Art zur Instandbesetzung von Arbeitsplätzen. In einem Film wurde der solidarische Kampf mexikanischer Arbeiter gegen den Continental-Konzern dargestellt als Antwort betrieblicher Interessenvertretung auf die „globalisierten“ Bedingungen im eigenen Betrieb.  „Genug für alle“ hieß der Workshop, der sich mit breiten zivilgesellschaftlichen Bündnissen befasste, die für eine politische Richtungsänderung erforderlich sind.

Eine Gesellschaft ohne Diskriminierung war das Thema einer anderen Gruppe. Um Globalität der Menschenrechte und soziale Solidarität ging es in einem Workshop, der sich dagegen aussprach, die nationalen Interessen und Standorte gegeneinander auszuspielen. Die Perspektiven sozialer Aneignung thematisierte Thomas Fritz: „Die globale Enteignungsökonomie unterwirft nicht nur Arbeit, Produktion, öffentliche Dienste und Natur der Kapitalverwertung, sondern zunehmend auch soziale Beziehungen, unser Handeln, Denken und Fühlen.“ Dem wurde die „Wiedergewinnung der Kontrolle über Arbeit und Leben“ gegenübergestellt. Um wirtschaftliche Selbsthilfe und alternative Ökonomie sowie verändertes Konsumverhalten und die Idee der Genossenschaften ging es in einem Workshop von Attac Berlin. Die Verbindung zwischen sozialer Gerechtigkeit und Ökologie war das Thema des Bundesverbandes der Bürgerinitiativen Umweltschutz: „Eine zukunftsfähige ökologische Politik ist ohne eine nachhaltige, gerechte Sozialpolitik nicht möglich“.

 

Projekt soziales und nachhaltiges Europa ohne Militarisierung

Das GATS-Abkommen und die noch weiter gehende EU-Dienstleistungsrichtlinie als „innereuropäisches GATS“ war das Diskussionsthema zwischen Vertretern deutscher und österreichischer Gewerkschaften und Attac, an dem ich als Zuhörer teilnahm. Von einem „Putschversuch mit Mitteln des Marktradikalismus“ war zu Recht die Rede, denn die EU-Dienstleistungsrichtlinie verhindert staatliche Regulierungsmöglichkeiten, Standards und Kontrollen und erzwingt einen Wettbewerb zwischen den 25 verschiedenen europäischen Rechtssystemen um den niedrigsten Standard im Unternehmens-, Sozial- und Tarifrecht. Die Zuständigkeiten und die Tarifhoheit der nationalen Gewerkschaften sind in Gefahr. Die EU entwickelt sich so zu einer Art Sonderwirtschaftszone.

In einem weiteren Workshop wurde der Zusammenhang zwischen EU-Verfassung, Sozialabbau und Aufrüstung bzw. EU-Militarisierung thematisiert. Die EU werde von einer zivilen Institution zu einer Wirtschafts- und Militärmacht umgebaut. Alternativen  zu einem europäischen Großmachtkurs und Chancen für ein internationales System friedlicher Konfliktlösungen wurden aufgezeigt. Das Europäische Netzwerk Nachhaltigkeitsstrategie setzte sich kritisch mit der Lissabon-Strategie der EU auseinander und stellte ein alternatives Projekt für ein nachhaltiges und soziales Europa zur Diskussion: Bestandteile sind sozial-ökologische Strukturreformen, ein sozialer Stabilitätspakt, eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik mit einer europäischen Strategie für Vollbeschäftigung sowie ein nachhaltiges Entwicklungsmodell. Europa muss seine Rolle in der Welt neu definieren.

 

Nachhaltige Bildung als soziale Zukunfts­aufgabe für den individuellen Lebensweg

Die Bildung als sozialpolitische Aufgabe und als ein „politisches Generalthema des 21. Jahrhunderts“ wurde auf dem Kongress als wesentlich für den individuellen Lebens­weg einerseits und als zentrale gesellschaftliche Ressource für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft andererseits thematisiert. „Mit sozialer Ungleichheit durch Bildung wird Zukunft verschenkt.“ Es wurde kritisiert, dass Bildung stattdessen zur Ware erklärt und den Marktgesetzen unterworfen wird, ja, Bildung als limitiert gilt und zunehmend käuflich erworben werden soll. „Die vom politischen Mainstream favorisierten Konzepte setzen trotz PISA und IGLU weiterhin auf ein selektives System und so auf Eliteförderung“, beklagten Vertreter der GEW. Dagegen wurde vom Podium Bildung und Weiterbildung für alle im Kontext lebenslangen Lernens als erforderlich erachtet.

Vorgestellt wurde der „Lernkompass zum nachhaltigen Bildungsweg“, ein Kooperationsprojekt der Hamburger Berufsschule Eiderstedt, das mit Partnern aus dem Stadtteil seine benachteiligten Jugendlichen zu anerkannten Berufsabschlüssen führt und in den ersten Arbeitsmarkt begleitet. Der Lernkompass beschreibt den individuellen, prognostizierten Bildungsweg, ebenso wie die absolvierten Lernphasen. Das Konzept basiert insgesamt auf fünf Elementen: individuell, selbstbestimmt, betriebsnah, regional, nachhaltig, dauerhaft; es soll in abgestimmter Kombination die Grundlage für eine erfolgreiche Integration bilden.

Weitere Podien befassten sich kritisch mit den Elite-Universitäten, beleuchteten die erfolgreichen Schulkon­zepte in Skandinavien und die Tendenzen der „Privatisierung“ der Bildung in Europa. Der Bund demokratischer Wissenschaftler erörterte das Konzept des aktivierenden Staates in der Bildungspolitik mit neuen Ansätzen wettbewerblicher Bildungssteuerung. Mit der Modernisierung von Auslesemechanismen münde diese Politik in die systematische Legitimation von Ungleichheit als Voraussetzung und ständiges Ergebnis von Marktkonkurrenz, so dass in zentralen Politikfeldern Sozialabbau mit Bildungsförderung legitimiert werde. Deshalb wurden bildungsökonomische Vorstellungen kritisiert, die mit dem Propagieren von Kostenprivatisierung zwangsläufig soziale Selektion betreiben.

Kritisch in den Blick genommen wurde auch die gegenwärtige Hochschulreform, die mit ihrer Kommerzia­lisie­rung und Verschulung kontraproduktiv sei und die Qualität der Wissenschaften schädige. Die einseitige Orien­tierung auf die spätere Berufspraxis vernachlässige die Kompetenz der Individuen als TeilhaberInnen in einer demokratischen Gesellschaft. „Wissenschaft – Ware oder öffentliches Gut?“ so wurde gefragt. Schließlich wurde auch die Europäisierung des Bildungssystems mit ihren Mythen, Legenden und Realitäten in den Blick genommen, da die Internationalisierung im Bildungswesen zunehmend an Bedeutung gewinnt: Stichworte sind das GATS-Abkommen und der sogenannte Bologna-Prozess für einen europäischen Hochschulraum sowie der Lissabon-Prozess der EU. Setzt sich das Paradigma durch, das Bildungssystem solle kommerziell-privat sein, wie kann man für die Erhaltung und Weiterentwicklung des öffentlichen Charakters des Bildungswesens tun?

Gewünscht hätte ich mir als Tagungsteilnehmer auch die Präsenz von Vertretern der freien Schulen, allen voran der Waldorfschulen sowie der nahestehenden Organsiationen, die  für die Freiheit  im europäischen Bildungswesen eintreten. In diesem Forum hätten sie engagierte Mitstreiter und offene Ohren vorgefunden für zukunftsfähige und menschengemäße Wege in der Bildung und Erziehung, losgelöst von den Interessen von Staat und Wirtschaft.

 

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verwirklichen durch eine soziale Dreigliederung

Wenn es irgendwo in der breiteren Öffentlichkeit und in der Zivilgesellschaft Interesse an Alternativen und eine unbefangene Aufnahme neuer zukunftweisender Ideen und Konzepte im Sinne der sozialen Dreigliederung gibt, dann auf einem so zusammengesetzten Perspektiven­kongress wie diesem in Berlin, wo um derartige Zukunftsfragen allenthalben kreativ gerungen wurde. Umso bedauerlicher, dass wegen der Überfülle an Themen, Angeboten und Gruppen mehrere vom Netzwerk Dreigliederung angebotene Workshops und Vorträge von den Veranstaltern auf einen 2-stündigen Workshop reduziert wurde: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verwirklichen durch eine soziale Dreigliederung“ mit Sylvain Coiplet, Stefan Reeder und Michael Wilhelmi als Referenten, mit immerhin 20 interessierten Teilnehmern.

In aller Kürze wurde in komprimierter Form die Verwirklichung der Dreigliederungsideale nicht als abstrakte Schlagworte, sondern in ihren wirksamen Zusammenhängen dargestellt: Brüderlichkeit im Sozialen, in der Zusammenarbeit und Wirtschaft; Gleichheit vor dem Recht, in der allgemeinen Regelung der menschlichen Beziehungen zueinander; Freiheit im mündigen Einsatz der individuellen Fähigkeiten der Menschen. Das ist der Weg, um die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft und die Abhängigkeit der Regierungen von Wirtschafts- und Parteiinteressen schließlich zu überwinden. Es wurde verdeutlicht, dass in einer brüderlichen Wirtschaft nur durch menschliche Arbeit hergestellte Waren und Rechte an Waren käuflich sind, nicht jedoch sonstige Rechte, Unternehmen, Organisationen oder Verfügungsgewalt über Menschen. Es wurde der Frage nachgegangen, wo Einzelurteile angebracht sind und wo Mehrheitsurteile.

Ich hätte mir für die sehr lebendige Diskussion mit vielen Fragen etwas mehr Absprache der drei Referenten über die Moderation und die jeweiligen Diskussionsbeiträge gewünscht. Auch war der Stil nach meinen Geschmack ein wenig zu dozierend. Mehr Teilnehmerorientierung hätte dem Workshop sicher gut getan. Das Problem mag damit zusammenhängen, dass wegen der Verdichtung auf einen einzigen Workshop improvisiert werden musste und  viele Fragen nur kurz angerissen werden konnten. Das mag auch der Grund sein, warum ein älterer Teilnehmer meinte, eine spirituelle Betrachtungsweise anmahnen zu müssen. Die Referenten standen für Vertiefungen aber nach dem Workshop noch zur Verfügung, auch eine schriftliche Einführung in die soziale Dreigliederung wurde verteilt.

 

Öffentliche Güter unter Druck – Privatisierung von Politik und Erosion von Demokratie

Selber war ich mit meinen Mitstreitern von ver.di NRW auf dem Kongress aktiv. Von den Veranstaltern war ich auch als Personalratsvorsitzender und Vertreter von ver.di und Attac auf ein Podium gebeten worden, bei dem es um das Thema: „Öffentliche Güter unter Druck“ ging.  Mit mir diskutierten dort Rainer Plassmann als Vertreter  des Europäischen Verbandes öffentlicher Unternehmen (CEEP), Doris Schuepp, Vizepräsidentin der schweizerischen Gewerkschaftsbundes und Generalsekretärin des Schweizerischen Verbandes Öffentlicher Dienste, ferner Prof. Christoph Scherrer von der Universität Kassel. Angela Pfister vom Österreichischen Gewerkschaftsbund  und Mitglied des Wirtschafts- und Sozialausschusses der EU moderierte. Es ging um die allgegenwärtige heftige Kontroverse über die öffentliche Daseinsvorsorge und deren künftiger Gestaltung sowie um die Frage nach den Kräften, die hinter den Kommerzialisierungs­bestre­bun­gen stehen.

Rainer Plassmann, der auf EU-Ebene mitverhandelt hat, stellte die konkreten Gefahren und Auswirkungen der EU-Dienstleistungsrichtlinie als „innereuropäisches GATS“ für die öffentlichen und kommunalen  Betriebe und Unternehmen und die künftigen Ausschreibungen dar – ein weiterer Zugriff auf die dem Wettbewerbsrecht unterworfenen öffentliche Dienste. Mit dem Begriff der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ werden öffentliche und private Unternehmen gleichgestellt und sind dementsprechend auch gleich zu behandeln, ohne Rücksicht auf den Gemeinwohlcharakter der öffentlichen Dienstleistungen. Das heißt, es handelt sich in Wirklichkeit um eine Schwächung in der Rechtstellung öffentlicher Unternehmen und um eine Stärkung privatwirtschaftlicher Verwertungsinteressen. Bei der öffentlichen Auftragsvergabe führt das zu Zwangsausschreibungen mit Ungleichbehandlung.

Prof. Christoph Scherrer erwies sich ebenfalls als profunder Kenner in Sachen GATS und Globalisie­rung, der sich seit geraumer Zeit in diesem Zusammenhang mit der Frage der öffentlichen Daseinsvorsorge befasst. Er beantwortete die Frage nach den Auswirkungen der Privatisie­rungswelle auf die flächendeckende Versorgung und ihre Qualität sowie nach den Alternativen zu der Vermarktung öffentlicher Dienste. Doris Schuepp berichtete von ihrem erfolgreichen Kampf in der Schweiz gegen die Strommarktliberalisierung. Sie war die Promotorin des erfolgreichen Bürgerentscheides im Jahre 2002.

Mir wurde der Part übertragen, über die Erfahrungen deutscher Betriebs- und Personalräte  mit der Privatisierung öffentlicher Dienste sowie über  die daraus resultierenden Probleme für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu berichten, ferner Alternativen und Lösungsansätze aufzuzeigen und Ansätze für eine effizientere Gestaltung des öffentlichen Sektors bei gleichzeitiger Garantierung der flächendeckenden Versorgung darzulegen. (Hierzu habe ich auch eine 12-seitige  Ausarbeitung erstellt, die unter Wilhelm.Neurohr@web.de abrufbar ist). Bei der lebhaften Diskussion im Saal  wurde auch eine Stärkung von Elementen der direkten Demokratie gefordert. Eine Initiative gab ihr Vorhaben bekannt, sich für einen wieder öffentlichen statt privatwirtschaftlichen Betrieb der deutschen Bahn AG einzusetzen und Unterschriften dafür zu sammeln, da die privatisierte Bahn AG umfangreicher subventioniert werde als vormals die staatliche Deutsche Bahn.

Prof. Bodo Zeuner befasste sich überdies in einem Vortrag, den ich besuchte, mit der Frage der Privatisierung von Politik bei gleichzeitiger Erosion von Demokratie: Die Politik des Marktradikalismus drohe jede Politik aufzulösen. Wo angeblich keine Alternativen bestehen, gibt es auch keinen Raum für Entscheidungen, Kontroversen, Kritik, öffentliche Diskurse und Partizipation der Bürgerinnen und Bürger. In Wirklichkeit werde weiter Politik gemacht, aber politische Herrschaft entziehe sich immer mehr der Anforderung demokratischer Legitimation. Sie tarne sich als privat-ökonomische Verfügungsgewalt, unterstützt von einer selbst zur Herrschaftsinstanz gewordenen Wissenschaft. Insbesondere die Wirtschaftswissenschaft werde zur Ersatzreligion, gestützt durch die Privatisierung der politischen Kommunikation durch die Medien.

 

Informationsfreiheit, Kultur sowie Instrumente direkter Demokratie und der Mythos Demografie

Gefährdet ist so auch die Informationsfreiheit. Eine freie Informationsgesellschaft statt Monopolisierung von Infrastruktur und Wissen wurde gefordert. Auch der Trends zu weniger Freiheit und mehr Zensur im Netz und zu digitalem Rechte-Management und Softwarepatenten anstelle freier Software und öffentlicher Infrastrukturen wurden diskutiert. Ein weiterer Workshop von der Attac-AG Medien in Berlin befasste sich mit dem Zusammenhang von Macht, Wirtschaft, Medien und Politik: Medien spiegeln das intellektuelle und politische Klima eines Landes wieder. Strukturen, Selektions- und Darstellungsmechanismen der Mediensegmente gestalten maßgeblich den öffentlichen Diskurs, insbesondere das Leitmedium Fernsehen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen trägt seinem gesellschaftlichen und verfassungsrechtlich verankerten Auftrag in Anbetracht der immer komplexer werdenden Bürgergesellschaft nicht mehr Rechnung. Das bewies auch die mangelnde Berichterstattung über diesen großen Perspektivenkongress. Eine einzige Berliner Tageszeitung würdigte in ihrem Leitartikel auf der Titelseite die aus dem Kongress mit hervorgegangene Einführung einer Komplementärwährung als Regionalgeld für Berlin, den „Berliner“.

Notwendig ergab sich also die Frage, ob auch alternative Medien als Gegenöffentlichkeit nötig und möglich sind und welchen Beitrag sie leisten können. Weitere Kongressthemen waren Kunst und Kultur, besonders auch die Kulturpolitik in Land und Kommune. Diese spielt sich heute oft nach dem Motto ab: „Der letzte macht das Licht aus…“. Denn Hauptleidtragende der rigorosen finanziellen Streichpolitik in de Kommunen sind die Träger von Kunst und Kultur – öffentliche Theater und Bühnen, Musikschulen, freie Kunst- und Theaterszene, bildende Künstler, Schriftsteller usw. Vielfach gehen die existenzbedrohenden Einsparungen an die Substanz und Existenz. Auch hier stellten sich die Fragen nach Alternativen und Gegenwehr.

Ein Aktionsfeldern ist auch die Nutzung von Instrumenten der direkten Demokratie zur Sicherung der Daseinsvorsorge. Ver.di Hamburg stellte das am Beispiel des Hamburger Volksentscheides „Gesundheit ist keine Ware“ dar, bei dem es gegen den Verkauf eines städtischen Krankenhauses ging.

Ein anderes wichtiges Thema, aufgegriffen in einem Vortrag: Seitdem die demografischen Veränderungen zum Argument für die angebliche Notwendigkeit von Sozialabbau, insbesondere der Rentenleistungen gemacht werden, weist Norbert Reuter vom ver.di-Ressort Wirtschaftspolitik nach, dass die Altersquotienten keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Probleme geben. Die Demografie sei kein Sachzwang, ja, es gebe sogar mehr statt weniger zu verteilen, denn: „Produktivität schlägt Demografie“. Es komme nicht auf die Altersquote an, sondern auf den Gesamtquotienten: Aus 31% nicht Erwerbstätigen in 2002 (Alte und Kinder zusammen) werden bis 2050 26%. In Deutschland haben wir derzeit die niedrigste Frauenerwerbsquote in Europa. Sie wird deutlich hin zu mehr Erwerbsfähigkeit steigen wird, da wir heute nur 69% Erwerbsfähige haben. Würde zudem die Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahrzehnten abgebaut, wären mehr Menschen erwerbstätig als heute. Mit der ohnehin steigenden  Produktivität können wesentlich mehr Nichterwerbstätige mit unterhalten werden als bisher, zumal wir den größten demografischen Wandel bereits hinter uns haben und nicht vor uns. Die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung ist deutlich gestiegen und steigt weiter, so dass weniger erwerbstätige Menschen mehr Werte schaffen, die zur Verteilung für alle verfügbar wären. Außerdem kann die momentane Geburtenrate nicht einfach in die Zukunft verlängert werden, zumal mit dem erweiterten Europa die Lebensräume und damit die Bevölkerung Europas sich durchmischen werden, also die räumliche Konzentration der Alten durch Verjüngung infolge von lebensräumlicher Mobilität aufgebrochen wird. Diese Erkenntnisse lassen eine andersartige Rentenreform ohne demografische Abstriche zu. Der Mythos Demografie gehört in das Feld der neoliberalen Zweckpropaganda.

 

Gemeinsames prozesshaftes Lernen aus unterschiedlichsten Denkrichtungen mit den Leitwerten: Demokratie und universelle Menschenrechte

Die Themenpalette des Kongresses reichte noch viel weiter, als hier darstellbar, z. B. wurde über Migration gesprochen, über Frauen- und Menschenhandel in Deutschland als einem Knotenpunkt täglicher sklavenähnlicher Ausbeutung, über transnationale Sozialrechte. Der Abschluss am Sonntag begann mit einem Vortrag von Prof. Nowotny aus Wien über ein alternatives ökonomisches Modell für Deutschland und Europa mit Überlegungen zur Steuergerechtigkeit und für eine Zukunft der öffentlichen Daseinsvorsorge. Er setzte sich fort mit einem Grußwort aus dem Süden von Prof. Ariel Salleh von der Universität Melbourne. Und er mündete in einem großen Abschlusspodium mit dem ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske, Hugo Braun von der Initiative für ein deutsches Sozialforum, Kerstin Sack von Attac und Nele Hirsch vom freien zusammenschlus von studentInnen­schaften fzs und einem Vertreter des Sozialverbandes.  Beate Wilms von der taz moderierte. Sie befragte die Podiumsteilnehmer nach 2-3 vordringlichen und kurzfristigen sowie längerfristigen Perspektiven und wollte wissen, wie sich das auf diesem Kongress gebildete Bündnis politisch einbringt, mit welchen Aktions- und Protestformen und evtl. zivilem Ungehorsam gegenüber der Mauer von Ignoranz. Leider war die Moderatorin nicht sensibel genug gegenüber dem Willen des Publikums und strapazierte seine Geduld, auch als  Vertreter einer Erwerbs­loseninitiative dagegen protestierten, dass kein Betroffener mit auf dem Podium sitze. Ver.di-Chef Frank Bsirske löste die Diskussion darüber unbürokratisch: Er holte kurzerhand einen Stuhl aus dem Publikum und bat unter dem Beifall des Auditoriums kurzerhand den Sprecher der Protestierenden mit auf das Podium.

Die Frage, was die Anwesenden aus den 80 unterschiedlichen Einzelorganisationen und Initiativen überhaupt eint, erbrachte folgende Übereinstimmungen: – Unbehagen an der Einheitspartei-Politik der im Bundestag vertretenen Parteien; der Widerstand gegen die Schrumpfung öffentlicher Bereiche durch den Neoliberalismus und gegen die Einschränkung der Demokratie; der Unmut über die Bereicherungschancen für einige wenige; das Engagement für mehr Bürgerbeteiligung und das Streben nach Alternativen; schließlich die Suche nach Experimentierbaustellen und das gemeinsame prozesshafte Lernen mit den Leitwerten Demokratie und universelle Menschenrechte. Einig war man sich auch darin: Vielfalt ergibt produktive Spannungsverhältnisse  und aus Differenzen ergibt sich Klärungsbedarf. Nur Protest gegen etwas sei zu wenig, vielmehr habe sich mit diesem Kongress ein politischer Raum geöffnet. Die Zielrichtung sei nicht die Wiederherstellung von Altem, sondern seien zukunftsfähige Alternativen und ein mehr an Demokratie und Menschenrechten. Gemeinsam will man sich den Herausforderungen stellen, „ohne revolutionäre Sonntagsreden, die in der Alltagspraxis blamiert werden“. Eine sozialverträgliche Ökonomie im dritten Sektor sei zu entwickeln, mit längeren Zeitperspektiven für Veränderungen. „Die Welt verändert sich sonst ohne uns.“

Ganz zum Schluss der Fragen und Beiträge aus dem Plenum, nach Zeitüberschreitung und sich schon leerendem Saal, verlangte ein Diskussionsredner an unpassender Stelle lautstark und beinahe missionarisch eine „spirituelle Orientierung“ dieser sozialen Bewegung. So unvermittelt und ungeschickt ohne Kontext in den unruhigen Raum gestellt, erntete die „Forderung“ den Unmut, die Heiterkeit  und die Ablehnung der strapazierten Zuhörer, die an den 3 Tagen bewiesen hatten, dass sie durch die Art und Weise der Menschenbegegnung durchaus spirituell bewegt und durchdrungen waren, wie an der gesamten Tagungsatmosphäre spürbar war, wie man sich aufeinander eingelassen hat und miteinander umgegangen war: Stärke, Kraft und Kreativität aus der Vielfalt, jenseits von Feindbildern, auf der Suche nach neuen Wegen und Qualitäten auch im eigenen Verhalten, mit einer Fundgrube von Anregungen, mit denen unterschiedliche Perspektiven zu einer sozialen Gesamtperspektive verschmelzen und mit denen eine bunte Bewegung gemeinsame Visionen erarbeitet hat, damit die Tagesprobleme mit Perspektiven verknüpft werden.

 

Wie geht es konkret weiter?

Die Abschlussfrage, die alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie die Veranstalter gleichermaßen bewegte, war diejenige, wie es nach diesem Kongress weitergeht. Wollen wir mehr werden bei der Bündnispolitik? Verstehen wir uns als autonome außerparlamentarische Opposition? Wie kann der Impuls dieses Kongresses nun in den lokalen Austausch gelangen und auch zu einer breiten Volksbildungsbewegung werden, da die gesellschaftlichen Verhältnisse nach Veränderungen schreien? Und wie kann auch die stark vertretene Gewerkschaftsbewegung ein neues Profil erlangen und sich aus parteipolitischen Bindungen lösen, um eine eigenständige Rolle in der Zivilgesellschaft zu suchen? Wie Können die erarbeiteten Perspektiven in die lokale und regionale Verbreitung und Vertiefung gelangen? Geplant sind regionale Kongresse, für die von den Mitträgern Expertisen und Referenten zur Verfügung gestellt werden.

Diese und weitere Fragen wurden bei dem anschließenden Vernetzungstreffen nach dem Perspektiven­kongress diskutiert. Ziel war dabei, den Vernetzungsgedanken und die Alternativmodelle zunächst in die eigenen Organisationen hineinzutragen, eine Regiona­lisierung der Perspektivendiskussion zu leisten und die Mitarbeit in lokalen Sozialbündnissen und Sozialforen zu verstärken. Zugleich sollen die Sozialforumsprozesse in Deutschland und Europa unterstützt werden. Eine thematische Zusammenarbeit bei ausgewählten Schwerpunktthemen wurde verabredet, die bereits im Herbst dieses Jahres in gemeinsame Kampagnen münden sollen: Eine Kampagne gegen Sozialabbau und Hartz IV, für Existenzsicherung und eine echte Bürgerversicherung; eine weitere Kampagne gegen Arbeitszeitverlän­gerung und für Arbeitszeitverkürzung in Verbindung mit einem anderen Arbeitsbegriff; eine Kampagne gegen die Privatisierung und für öffentliche Güter sowie Steuergerechtigkeit; ferner eine Kampagne gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und globale soziale Rechte, Integration und Solidarität; schließlich eine Kampagne gegen Neoliberalismus und für „Wiederaneignung“ („Es ist genug für alle da! Zeit zum Umverteilen!“). Weitere Aktionsfelder wurden angesprochen: Anders leben, arbeiten, konsumieren und solidarisch wirtschaften, gegen Standortkonkurrenz. Auch Einzelkampagnen gegen die Wasserprivatisierung wurden erwogen.

Jetzt kommt es auf die handelnden Menschen vor Ort an. Denn durch sie allein findet eine Veränderung der Welt statt. Für die Teilnehmer des Netzwerks  Dreigliederung war erfahrbar, dass die Offenheit und das latente Verständnis für dreigliederungsgemäße Ansätze wohl selten so groß war wie in dieser Zeit und in solchen Zusammenhängen und Menschenkreisen, so dass sich die Perspektive auftut: Jetzt ist Dreigliederungszeit in der Zivilgesellschaft, damit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit an die richtige Stelle gelangen.

Für ein soziales Europa der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit  sind am 3. April 2004, dem  „Europäischen Aktionstag“, über 500.000 Menschen allein in Deutschland auf die Straße gegangen. Über 250.000 in Berlin, über 150.000 in Stuttgart sowie 130.000 in Köln, ferner etliche Tausend auch  in London, Paris, Dublin, Bratislava, Brüssel, Rom. Stockholm, Athen, Madrid, Oslo, Kopenhagen, Lissabon, Prag, Warschau und vielen weiteren Städten, zusammen rund 1 Million Menschen in ganz Europa. Das hat es in Deutschland und Europa so noch nicht gegeben – abgesehen von der ebenfalls aus der europäischen Zivilgesellschaft heraus initiierten weltweit größten Friedensdemonstration am  15. Februar 2003 mit 18 Millionen Menschen in 660 Städten der Erde. Angestoßen wurde der soziale  Aktionstag vom 3. April im vorigen Jahr von den 100.000 Teilnehmern des „Europäischen  Sozialforums“ in Paris . Das Motto des Aktionstages lautete: „Aufstehen – damit es endlich besser wird.“  Hier wurde mit der aktiven Zivilgesellschaft in Europa das sichtbar, was der alternative Nobelpreisträger Nicanor Perlas die Kulturkraft oder globale Ausgleichskraft der Zivilgesellschaft nennt.

Es war keine bloße Pflichtveranstaltung der Gewerkschaften als Mitorganisatoren, wie es die Presse und die Bundesregierung herunterzuspielen versuchten, sondern ein breites soziales Bündnis. Eine neue soziale Bewegung formierte sich und brachte so die bisher größte Demonstration aus sozialen Beweggründen zumindest in der Geschichte der Bundesrepublik  zustande. Sie ist mehr als nur eine Protest- oder Widerstandsbewegung gegen den rigorosen Sozialabbau im Zuge des globalen Standortwettbewerbs. Der Aktionstag wird flankiert von einer Reihe von Zukunfts- und Perspektivenkonferenzen in den Wochen vor und nach den Straßenaktionen, nachdem sich in vielen Regionen soziale Bündnisse, Sozialforen oder Zukunftsforen gebildet haben, in denen über zukunftsfähige Alternativen  zum momentanen Sozialabbau unter dem allgegenwärtigen Diktat der Ökonomie geistig gerungen wird.

Über den Berliner Perspektivenkongress berichtet eine eigener Artikel in diesem Heft. Eine andere „Initiative Zukunft“ versteht sich als „Bewegung der  Vordenker und Gestalter“, die ebenfalls  vom 14. bis 16. Mai ein Zukunftsforum „Arbeit und Tätigkeit“ veranstaltete sowie vom 18.-22. Juli ein „Europäisches Forum“ zum Thema „Komplementär-Währungen“, also zur Erneuerung des Geldwesens (siehe Dreigliederungs-Rundbrief 1/2004).

Und bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen, die alljährlich am 1. Mai mit einem Kulturvolksfest am Festspielhügel als Europäisches Festival eröffnet werden, haben  die Kulturschaffenden die Problematik der neoliberalen Globalisierung zum Schwerpunktthema gemacht.

Was bewegt die Menschen in der Zivilgesellschaft zu solchen Aktionen und Initiativen?  Sie sehen das soziale Europa in Gefahr und wollen den sozialen Dialog beleben oder wiederbeleben. Und sie möchten keine Europäische Verfassung, der es an sozialer Ausrichtung mangelt und in der stattdessen die neoliberale Orientierung und die Militarisierung Europas vorgegeben und das Subsidiaritätsprinzip verwässert wird. Die aus den USA stammende Lehre und Ideologie vom Vorrang des „Sharehol­der-Value“ – als Gegenstück zum sozialen Dialog an runden Tischen mit assoziativer Gestaltung des Wirtschaftslebens –  steht nunmehr im Mittelpunkt der Kritik. Denn sie verdrängt den eigentlichen Sinn und Zweck des Wirtschaftens in menschlicher Lebens- und Schicksalsgemeinschaft aus dem Bewusstsein und führt Europa und die ganze Menschheit in eine soziale Katastrophe. Obendrein führt sie zur ökonomischem Vereinnahmung des Rechts- und Kulturlebens. Die Demonstranten wollen dagegen eine sozial ausgerichtete Verfassung der EU und eine andere, sozial gerecht oder geschwisterlich ausgerichtete Wirtschafts- und Sozialpolitik nach menschlichem Maß. Sie wehren sich gegen eine Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse und streben nach einem neuen Menschenbild im Staats- und Wirtschaftsleben. Es geht also um zeitgestaltende Ideen, die eine soziale Zukunft in Europa vorbereiten, die nicht allein im Wirtschaftlichen liegt. Der mit der Wirtschaft vermischte Europäische Einheitsstaat steht auf dem Prüfstand.

An der sozialen Frage wird sich entscheiden, ob Europa eine geistig und moralisch vorbildliche  und hilfreiche Rolle in der Welt übernehmen wird und ob die Menschen in Europa das höchste Geistige erkennen und ergreifen lernen. Ergreifen lernen, indem sie die Armen und Schwachen in den Mittelpunkt statt an den Rand aller Politik stellen, mit  materiellem und geistigem Gewinn für alle Beteiligten – denn Teilen macht alle reich. An der sozialen Frage kann die Wirklichkeit der geistigen Welt durch das Brüder­lichkeitsprinzip im Sinne der sozialen Dreigliederung sichtbar werden. Den europäischen Menschen kann solange das Brot nicht schmecken, als in Europa und vor allem anderswo in der Welt noch Menschen hungern – hungern nach geistiger, seelischer und physischer Nahrung. Der Zeitgeist  findet über die wach werdenden und sich sozial verbündenden Völker Europas den Zugang zu den einzelnen individuellen Persönlichkeiten, die sich zur selben Stunde für den menschlichen Fortschritt in Europa vereint einsetzen.  Der 3. April 2004 wird deshalb ebenso in die Geschichte des neuen Europa eingehen wie bereits der 15.  Februar 2004.

 

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