12 Mai 2016

Memorandum 2016

von Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup

 

Transkript des Vortrages, Prof. Dr. H.-J Bontrup, vom 10. Mai 2016, in der Westfälische Hochschule, Campus Recklinghausen

Bearbeitung: Pan Pawlakudis

Eine Veranstaltung des Institutes iWiPo, der Westfälischen Hochschule und des DGB Region Emscher-Lippe


Vorwort: Pan Pawlakudis/Institut iWiPo

Die Welt ist unsicherer geworden. Kriege und Massenauswanderungen, Europa destabilisiert sich politisch, gesellschaftlich und ökonomisch und die Finanz- und Kapitalmärkte, unterstützt von Mainstreamökonomen, die sich weiterhin gegen jegliche Regulierung und Reform aussprechen, sorgen aggressiver denn je für eine grandiose Reichtumsverteilung von unten nach oben.

Rein gar nichts lehrt die noch anhaltende Finanzkrise und die Lösung der Einflussreichen aus Wirtschaft, Bildung und Politik bleibt alternativlos: Wachstum! Ein Zauberwort mit temporärer Wirkung. Die Natur kennt nur eine Art ungebremsten Wachstums: Krebs.

Die Wirtschaft soll mehr wachsen, um das sozioökonomisch zu kompensieren, was die wenigen Kapitaleigentümer dieser Welt verursachen, deren Trieb und Zwang nach mehr Profit und vor allem mehr Macht, wird Milliarden Menschen ins Unglück stürzen.

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, eine Gruppe aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Universitäten, Fachhochschulen, Forschungseinrichtungen und Gewerkschaften, veröffentlicht seit 1975 alljährlich ein MEMORANDUM als Gegenentwurf zu den Jahresgutachten der „Fünf Weisen“. Das Memorandum ist zu einer festen Einrichtung geworden und aus der bundesdeutschen aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte nicht mehr wegzudenken.

Prof. Heinz-J. Bontrup, an dessen Hochschule und in seinem Lieblingshörsaal, sein „Wohnzimmer“, wir uns heute befinden, ist neben Mechthild Schrooten, Professorin an der Bremer Hochschule, Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Heinz-J. Bontrup gehört seit langem zu jenen mahnenden Ökonomen, die nicht müde werden für eine Gesellschaft zu streiten, die ihre Mitte längst verloren hat.

Wir von iWiPo streiten auch: Mit dem Mittel der politischen Bildung. Wir appellieren an jede und jeden, vor allem appellieren wir an junge Menschen, sich nicht einem verheizenden Fatalismus zwischen Konsum und prekäre Beschäftigung zu ergeben. Hierbei hilft Platons Höhlengleichnis um die Realität von der Fiktion trennen zu können. Die Wut wird danach zwar größer, aber immerhin lässt die intellektuelle Verwirrung nach!

Denken Sie daran: Würden wir doppelt so viel fordern, als wir haben, hätten wir die Hälfte dessen was uns zusteht.

Übrigens: Neurologen haben bei einem Experiment herausgefunden, bei dem die Probanden mit Geld spielen sollten, dass beim Geldverdienen dieselben Hirnregionen stimuliert werden, wie beim Konsum von Kokain! Es wird Zeit für eine Entziehungskur!

Das Wort hat Prof. Bontrup.

 

Entstehung und Arbeitsweise der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
Vortrag Prof. Dr. H.-J. Bontrup

Danke Pan für die Einführung und ich freue mich über die relativ große Resonanz und ausdrücklich über die anwesenden Studierenden.

Ich freue mich darauf, Ihnen, wie ich glaube, eine extrem wichtige Gruppe in Deutschland vorstellen zu dürfen: Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Sie haben heute Abend einen profunden Kenner dieser Gruppe hier vorne stehen, nicht zuletzt auch weil ich bereits als Student 1978, kurz nach der Gründung im Jahr 1975 zur Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik gestoßen bin. Das erste Memorandum wurde von 24 Professoren aus unterschiedlichen Universitäten und Fachhochschulen in Deutschland verfasst. Es war keine Frau dabei. Das ist heute anders.

Sie erinnern sich vielleicht: 1974/75 hatten wir die schwerste Weltwirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Ökonomen sagen, die kleinere Krise von 1966/67 war der Vorhof zur dann noch größeren Krise 1974/75.

1974 löste Helmut Schmidt (SPD) Willy Brandt (SPD), wegen der Guillaume Affäre,  als Kanzler ab, obwohl Walter Scheel (FDP) Brandt bat, nicht zurückzutreten. Der gelernte Volkswirt Schmidt setzte zur Krisenbekämpfung sogleich ein „Kostendämpfungsgesetz“ durch. Dem ging ein Gutachten des Sachverständigenrates (Anm.: „Fünf Weisen“), der 1963 von Ludwig Erhard ins Leben gerufen wurde, voraus, dessen Gutachten bis dahin durchaus auch keynesianische Elemente beinhalteten. Das Gutachten von 1974 läutete jedoch einen Paradigmenwechsel ein! Dies führte nicht zuletzt zur „Geburt“ der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und zur Formulierung des ersten „Memorandums“, das nur aus 4  Seiten bestand und den schlichten Titel „Für eine wirksame und soziale Wirtschaftspolitik – Memorandum von Wirtschaftswissenschaftlern“ trug. Das erste Memorandum wurde in der damaligen bundesdeutschen Hauptstadt Bonn der Presse vorgestellt und erzielte eine hohe Resonanz in der Öffentlichkeit. Alle überregionalen Zeitungen berichteten.

Seit nunmehr 41 Jahren wird das Memorandum herausgegeben. Damit ist die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik ein Teil der Zeitgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und wir sind stolz darauf, dies geleistet zu haben, nicht zuletzt wegen der immer wieder gegen den Strom eingebrachten alternativen wirtschaftspolitischen Konzepte. Leitgedanke unserer Gruppe war und ist dabei nicht die Kritik um der Kritik willen, sondern die gebotenen und sehr dezidiert ausgearbeiteten Alternativen als Resultat einer analytischen Kritik an der Mainstream-Ökonomie.

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik ist ein offener Zusammenschluss von Wissenschaftlern. Wir sind kein Verein, wir haben auch keine Satzung. An unseren Tagungen kann jeder mit ökonomischem Sachverstand teilnehmen. Wir treffen uns jeweils im Juni und Ende November an 3 aufeinander folgenden Tagen in Bielefeld und erarbeiten dort die jeweilige Grundstruktur der Memoranden. Auf den Tagungen werden dann gruppenbezogene Arbeitsaufträge (schriftliche Ausarbeitungen für das Memorandum) vergeben. Diese Aufträge müssen bis zur nächsten Tagung Ende Januar fertiggestellt werden. Auf der Januartagung werden dann die vorliegenden Ausarbeitungen diskutiert und kritisch überprüft. Da gibt es dann auch mal Enttäuschungen, weil es einzelne Papiere nicht ins Memorandum schaffen. Das ist mir auch schon passiert und das tut sicherlich für den Autor oder die Autorengruppe dann weh!

Auch wir kämpfen mittlerweile mit personellen Problemen, so wie alle Parteien, Jugendorganisationen, Gewerkschaften etc. Es ist leider so. Die Jugend wendet sich ab, sie ist apolitisch geworden. Das merken wir an den Hochschulen. Mittlerweile bin ich der zweitjüngste Professor in der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, was sicher auch damit zu tun hat, dass in den Universitäten und Fachhochschulen der neoliberale Mainstream herrscht und ein keynesianisch inspirierter Nachwuchs ausgeblieben ist.

 

Memorandum 2016

Ich will im Folgenden aus dem Memorandum 2016 einige Grundgedanken vortragen. Vorab aber noch kurz sagen, was wir unter alternativer Wirtschaftspolitik als Eckgrößen verstehen. Alternative Wirtschaftspolitik verkörpert einen Typus von Politik, der für einen Wechsel in den ökonomischen Denk- und Handlungsmustern (“Paradigmen-Wechsel“) steht und eine umfassende Reform der historisch überholten Wirtschafts- und Sozialpolitik betreibt. Sowohl bezüglich der Zielsetzung wie auch hinsichtlich der Auswahl und des Einsatzes der spezifischen wirtschaftspolitischen Instrumente versucht sie schrittweise, die Ursachen dieser Konflikte zu beheben sowie auch die Ausprägung weiterer struktureller Disparitäten zu verhindern. Die Eckgrößen alternativer Wirtschaftspolitik betreffen dabei insbesondere

  • die Zukunft der Arbeit und einen neuen Typ der Vollbeschäftigung,
  • die soziale Sicherheit,
  • die soziale Gerechtigkeit,
  • die ökologische Nachhaltigkeit,
  • den Abbau regionaler Disparitäten,
  • die Verringerung der Nord-Süd-Ungleichheit,
  • die politische und wirtschaftliche Demokratie und
  • den Frieden und die globale Sicherheit.

Die konkrete inhaltliche Ausformulierung wie auch die Weiterentwicklung dieser Eckgrößen müssen in einem möglichst breiten öffentlichen Diskurs stattfinden.

Auch das gerade von uns vorgelegte Memorandum 2016 ist, wie alle Memoranden, in diesem grundsätzlichen Duktus verfasst.  Es behandelt in diesem Jahr, wie sie sich denken können, u.a. schwerpunktmäßig auch die anhaltende Flüchtlingsmigration. Natürlich, wie in jedem Memorandum, wird auch 2016 auf die wirtschaftliche Lage Deutschlands und die der EU eingegangen. So trägt das erste Kapitel den Titel: „Europäische Union – zwischen Zerfall und Zusammenhalt“ und das zweite Kapital „Flüchtlingsmigration – eine Chance zur Stärkung des Gemeinwesens“. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem großen Bereich der Arbeits- und Beschäftigungspolitik als zwei dauerhafte Herausforderungen. Ein weiteres großes Kapitel setzt sich diesmal mit dem Mindestlohn auseinander, der trotz seines Erfolges immer noch von bestimmten Interessengruppen diskreditiert wird. Das fünfte Kapitel des Memorandums 2016 untersucht die öffentlichen Haushalte und im Kontext mit der Flüchtlingsmigration den Satz der Bundeskanzlerin „Wir schaffen das“. Das sechste Kapitel behandelt die Bildungspolitik und das Märchen vom Aufstieg durch Bildung. An dieser Stelle darf ich sagen, dass wir in Sachen Bildungspolitik seit Jahren mit der GEW (Anm.: Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft) eng zusammen arbeiten.

Wir werden manch mal kritisiert, dass bei uns in den Memoranden das Thema Umwelt zu kurz käme. Das stimmt aber nicht; wir haben uns immer wieder auch mit Umwelt-, Energie- und Klimapolitik beschäftigt und sind enge Kooperationen mit Umwelt-Wissenschaftlern, wie bspw. Peter Hennicke eingegangen, der lange Jahre das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie geleitet hat. Erst gerade haben wir wieder im Memorandum 2016, nicht zuletzt wegen der Pariser Klimakonferenz vom Dezember 2015, ein ausführliches Kapitel zur Energie- und Klimapolitik mit dem Untertitel „Ein gewaltiger Kraftakt“ aufgenommen, an dem ich übrigens intensiv mitgearbeitet habe.  Ein weiteres achtes Kapitel im Memorandum 2016  befasst sich mit der Rüstung unter der Überschrift „Mut zur Konversion“. Die Bundesrepublik ist im Rüstungsgeschäft nach wie vor gut unterwegs.

Besonders möchte ich ihnen noch das Abschlusskapitel des Memorandums 2016 empfehlen, das sich wie ein roter Faden durch unsere Diskussionsprozesse in der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik zieht. Es handelt sich hier um eine ordnungs- und keine nur prozesstheoretische Kritik am Kapitalismus, die neue Ideen erfordert. Wir haben in diesem Kapitel Denkanstöße aufgezeigt, wir haben nachgefragt welche Transformationsmechanismen ordnungstheoretischer Natur es eigentlich geben müsste um den Kapitalismus, der sicher nicht das Ende der Geschichte ist, zu überwinden. Wir sind uns darüber einig, dass der Kapitalismus, wie wir ihn heute vorfinden, so nicht überlebensfähig ist.

 

Zusammenhang zwischen Fiskal- und Geldpolitik

Ich möchte im Weiteren meines Vortrags einen Punkt, ein Kapitel herausgreifen und mit Ihnen darüber in den Dialog treten: Die Flüchtlingsmigration. Lassen sie mich aber zunächst noch einmal allgemeines zur Geld- und Fiskalpolitik sagen. Die EU ist zurzeit, wie sie wissen, ökonomisch und politisch gespalten und steht vor einer großen Zerreißprobe. Ich will hier nur die Griechenlandkrise oder den möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU erwähnen. Gestern ist der Österreichische Bundeskanzler zurückgetreten. Auch in Deutschland stehen wir vor gewaltigen ökonomischen und politischen Herausforderungen – genauso wie in der gesamten EU. Wir sind dabei aber trotzdem in der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik Lichtjahre davon entfernt, den Euro abzuschaffen. Viele sind beim Thema Euroaustritt unterwegs. Würde man den Euro abschaffen, wäre alles gut, heißt es! Das ist ökonomisch naiv. Man kann die Szenarien durchspielen, wie man will: Einzelne schwache Länder, wie bspw. Griechenland entlässt man aus dem Euro – gestern Nacht hat ganz aktuell das griechische Parlament zum wiederholten Mal eine kontraproduktive Austerität beschlossen, die dem Land leider nicht hilft, sondern weiter in die Verelendung treibt – , oder das andere Szenario, das einige Ökonomen auch durchspielen, Deutschland verlässt den Euro, immer ist am Ende der Befund für alle negativ.

Wenn Deutschland den Euro verlässt wäre das nicht nur für Deutschland, sondern auch für die gesamte EU, und zwar ökonomisch und politisch, ein Gau! Zum Euro gibt es keine Alternative mehr. Was aber nicht funktioniert, wie wir realiter sehen, ist die Verbindung einer Einheitswährung für Länder mit völlig unterschiedlich realwirtschaftlich ausgeprägten Ökonomien und eine gleichzeitig zur Anwendung kommende neoliberale Wirtschaftspolitik. Darin sehen wir das Problem und unsere Antwort heißt: Nicht Abschaffung des Euros, sondern abschaffen der neoliberalen Politik!

Dies wird aber von der herrschenden Politik in Europa nicht verstanden und aus Interessengründen nicht akzeptiert. Es stehen sich offensichtlich zu viele divergierende Interessen ökonomischer und politischer Natur gegenüber. Wenn der Neoliberalismus jedoch gegen eine vereinheitlichte europäische expansive Fiskalpolitik ohne Schuldenbremsen ausgetauscht würde, hätten wir eine völlig andere wirtschaftliche und damit letztendlich auch politische Situation. Wir kämen aus dem selbstgeschaffenen Schlamassel heraus. Es ist befremdlich – und da müssen wir ihm dankbar sein –, dass der Wirtschaftsprofessor und EZB-Präsident, Mario Draghi, eine richtige expansive Geldpolitik betreibt, und diese ausgerechnet gegen den überzeugten neoliberalen Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann in der EZB durchsetzen muss. Würde Draghi das nicht tun, wäre das Ganze längst implodiert.

Natürlich kann man ihm vorwerfen, dass er mit seiner expansiven Geldpolitik, mit dem Auf- und Rückkauf von Staats- und Unternehmensanleihen im Wert von 80 Mrd. Euro (monatlich), Vermögende schützt. Ich bin den britischen Wissenschaftlern dankbar, die bezüglich Griechenland untersucht haben, wohin die bisher aus der EU an Griechenland geflossenen 261 Mrd. Euro gegangen sind, wer sie letztendlich bekommen hat. Ganze 9,7 Mrd. Euro, und das auch noch nur indirekt, sind hier lediglich beim griechischen Staat angekommen. Der Löwenanteil ging in den Kapitaldienst alter Kredite, er ging zu den Banken und Vermögenden! Wenn man das nicht will, muss man aber die Alternative nennen und umsetzen; dies ist ein gezielter Kapitalschnitt bei den Reichen. Den will von der herrschenden Klasse aber auch keiner.

In der Krise muss zumindest die Geldpolitik expansiv ausgerichtet werden. Genau das macht Draghi, weil es notwendig und vernünftig ist. Im Gegensatz zur Politik, die in den EU-Hauptstädten verantwortet wird, und das unvernünftige Gegenteil praktiziert, nämlich eine kontraktive Fiskalpolitik: Austerität, Kürzungen in den Staatshaushalten verbunden mit Schuldenbremsen. Das ist absurd!

Ich habe in einer Krise zwei wirtschaftspolitische Instrumente: Die Fiskalpolitik und die Geldpolitik. Ich muss beide gleichschalten und nicht einerseits – und richtigerweise – eine expansive Geldpolitik betreiben, was Draghi tut, und gleichzeitig eine kontraktive Fiskalpolitik fahren. Der Befund ist dann klar und der heißt Krisenverschärfung und nicht Krisenlösung.

Eigentlich ist das nicht schwer zu verstehen! Als Ökonomen wissen wir, dass allein die Geldpolitik niemals aus der Krise herausführen kann. Ich bin dem ehemaligen verstorbenen Bundeswirtschaftsminister Prof. Karl Schiller (SPD) dankbar, der einmal sagte: „Die Geldpolitik kann die Pferde nur zur Tränke führen aber nicht zum Saufen zwingen. Zum Saufen kann aber die Fiskalpolitik anreizen.“ Wenn die Fiskalpolitik, nicht zuletzt durch Schuldenbremsen, aber ausfällt, nützt auch der Zins von null Prozent  nichts, weil die Unternehmen trotzdem keine Kredite nachfragen. Warum auch, wenn sie keine Nachfrage und Profiterwartung an ihren Güter- und Dienstleistungsmärkten haben.

 

Flüchtlingstragödie als Chance für einen Politikwechsel

Vor diesem Ergebnis einer falschen neoliberalen Wirtschaftspolitik muss man die Flüchtlingstragödie sehen bzw. einordnen. Wir haben in der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik heftig darüber diskutiert, wie wir uns hierbei positionieren. Wenn sie das Kapitel über die Flüchtlingsmigration lesen, werden sie feststellen, dass die Position sehr differenziert ist. Uns war klar, dass es nicht so einfach sein würde das Merkel-Zitat mit „Wir schaffen das“ umzusetzen. Dennoch: Ja, Wir schaffen das, aber nicht mit der praktizierten neoliberalen Wirtschaftspolitik der Kanzlerin! Wenn wir diese seit Jahrzehnten andauernde kontraproduktive neoliberale Politik, die wir von Anfang an, seit 1975, kritisiert haben, so weiterführen, wird die Flüchtlingstragödie zu einem Problem, nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten EU.

Natürlich entstehen hier im ersten Primäreffekt der Zuwanderung Kosten, aber auch Einkommen: Die Flüchtlinge müssen untergebracht werden und sie müssen erstversorgt werden. Das ist ein Konjunkturprogramm mit multiplikativer Wirkung, ein lupenreiner „Bastard-Keynesianismus“ bzw. ein deficit spending, das in der ersten Phase stattfindet. Wenn der Staat einen Euro auf Kredit basierend ausgibt, wirkt er positiv und multiplikativ um den Faktor X auf das Inlandsprodukt. Es kommt zu mehr Wachstum, zu mehr Beschäftigung und das kommt direkt in den Kommunen an. Die Ausgaben des Staates, 2015 waren es knapp 10 Mrd. Euro für die Flüchtlinge, sind letztlich die Einnahmen von Unternehmen und privaten Haushalten. Zu behaupten, das „belastet die Gesellschaft“, als würde das Geld in ein „schwarzes Loch“ geworfen und keine Wirkung entfachen, ist ökonomisch betrachtet völliger Unsinn.

Wenn wir weiter nach dem Primäreffekt der Frage nachgehen, ob die meisten Flüchtlinge bleiben werden, gehen wir in unserer Antwort mit anderen Forschungsinstituten konform: Die meisten werden nicht bleiben! Sie werden in ihre Heimat zurückgehen, wenn die wesentliche Fluchtursache, die grausamen Kriege, beendet sind.

Die Flüchtlinge, die in Deutschland bleiben wollen, brauchen dann aber Arbeit. Bekommen sie langfristig keine Arbeit werden sie zum Sozialfall und damit auch zu einem gesellschaftlichen Problem.

 

Massenarbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung und Armut

Die Zuwanderung von Flüchtlingen trifft auf einen sich durchaus erholenden Arbeitsmarkt in Deutschland. Das ändert aber nichts an der weiter bestehenden Massenarbeitslosigkeit. Insgesamt fehlen an die fünf Millionen Arbeitsplätze. Besonders dramatisch ist der weiterhin hohe Bestand von über einer Million Langzeitarbeitslosen. Zudem hat die neoliberale Politik für prekarisierte Arbeitsmärkte gesorgt. Nun haben wir zwar nach langem Kampf den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro bekommen, den wir ausführlich im Memorandum 2016 behandeln, und der sich, entgegen den negativen Prognosen, positiv auf die Arbeitsmärkte auswirkt. Dennoch stellt der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags fest, dass es sich hier noch um einen Armutslohn handelt. Wenn jemand 45 Jahre lang zum Mindestlohn gearbeitet hat, bekäme er heute diskontiert eine Rente von 780 Euro. Dann bestätigt sich die Aussage des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: „Du bist zeitlebens in Armut gefangen“. Empirische Studien, basierend auf 2013 – jüngere Erhebungen gibt es noch nicht –, gehen von einer Armutsquote in Höhe von 15,4 Prozent in Deutschland aus. Das sind etwa 12,5 Millionen betroffene Menschen, die arm sind – und das im fünftreichsten Land der Erde. Wenn Eltern entscheiden müssen, ob Mittags ein Teller Suppe auf den Tisch kommt oder sie ihrem Kind mal ein Eis kaufen, also Opportunitäten abwiegen müssen, um dem Kind dann zu sagen, dass es auch diesmal kein Eis bekommt, oder durch die Stadt gehen und die Straßenseite wechseln, weil gleich ein Spielzeugladen kommt, den das Kind nicht sehen soll, weil sie nichts von dem kaufen können, was dort angeboten wird, ja, dann ist das Armut! Wenn du deinem Kind sagen musst, du kannst  nicht an der Klassenfahrt teilnehmen, es deshalb als erkrankt meldest (davon berichten Lehrer immer öfter), dann ist das Armut! Fast jedes fünfte Kind ist davon in Deutschland mittlerweile betroffen.

Dies alles ist natürlich bei der Flüchtlingsmigration zu beachten und kann nicht einfach ignoriert werden. Die heute in Deutschland, auf Grund der neoliberalen Politik, arm gemachten Schichten haben Angst, die Flüchtlinge könnten ihnen auch noch das Wenige dass sie nur noch haben, auch noch wegnehmen. Dies erklärt nicht zuletzt den hohen Zulauf zu rechtspopulistischen Parteien – nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten EU.

Deshalb fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit und Armut in Deutschland neben Lohnerhöhungen und einer Arbeitszeitverkürzung zu vollem Lohn- und Personalausgleich auch ein Programm für „Gute öffentlich geförderte Beschäftigung“ im Umfang von 300.000 Stellen. Dies alles wird aber noch nicht reichen. Seit Jahren fordern wir deshalb zusätzlich ein umfassendes staatliches Investitions- und Ausgabenprogramm, das neben infrastrukturellen, ökologischen und sozialen Effekten vor allem auch die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Ziel hat. Ein solches Programm würde sich zu einem Großteil selbst finanzieren. Natürlich verlangt das alles aber auch nach einer völlig anderen Steuerpolitik, die die auf der oberen Skala immer reicher werdenden Deutschen endlich einer adäquaten Besteuerung ihrer hohen Einkommen und Vermögen unterzieht. Auch dies wird von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik seit Anfang an, also seit 1975,  von der jeweils herrschenden Politik eingefordert. Leider bisher ohne Erfolg. Dennoch machen und kämpfen wir weiter für eine gerechtere Bundesrepublik Deutschland, die dann auch ohne Probleme die Flüchtlingstragödie meistern wird.

Ich danke Ihnen sehr für Ihr aufmerksames Zuhören!

Im Anschluss entwickelte sich eine lebhafte Diskussion.

 

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