02 Apr 2015

Zusammenwirken von Staat, Markt und Zivilgesellschaft

apl. Prof. Dr. Eberhard Umbach

 

Aus dem Aufsatz „Soziale ökologische Marktwirtschaft – Alternative zum Finanzkapitalismus“

Kernaussage 

In den letzten zwei Jahrzehnten wurde der Staat auf allen Ebenen zurückgedrängt und musste wegen Finanzknappheit und marktradikaler Deregulierung seine Aufgabenerfüllung reduzieren. Ziel einer SÖM ist es, den Staat wieder aufzuwerten, besser zu finanzieren und ihn in Stand zu setzen, auch gegen die Interessen des Finanzkapitals das Gemeinwohl besonders im sozialen und kulturellen Bereich, bei der öffentlicher Sicherheit, bei Bildung und Wissenschaft zu schützen. Dabei geht es nicht um einen allmächtigen Staat wie im früheren Ostblock, sondern um ein ausgewogenes Verhältnis von Gemeinwohlinteressen und Einzelinteressen.

 

Erläuterungen

Das gegenwärtige Problem und seine Ursachen

In der industrialisierten Welt und auch in Deutschland hat der Staat in der Wahrnehmung der Bürger ein Janus-Gesicht:

  • Einerseits wurde von ihm jahrzehntelang die Lösung aller Probleme erwartet, unter den Bezeichnungen Rechtsstaat, Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat. In der Volkswirtschaftslehre sahen einige Autoren ein Gesetz wachsender Staatsausgaben als wirksam an. Der Grund dafür war die Übernahme immer weiterer Aufgaben durch den Staat. Dieser Zusammenhang wird in Deutschland erst in jüngster Zeit empirisch nicht mehr bestätigt.
  • Andererseits wird der Staat kritisiert als Verschwender von Steuergeldern, als schlechter Wirtschafter, als Innovationshemmnis, als bürokratischer Moloch, der die Bürger bevormundet. Anknüpfend an diese Vorurteile, aber auch an reale Erfahrungen von Bürgern, ist in der herrschenden neoliberalen Ideologie die Einschränkung der Staatstätigkeit ein zentrales Ziel.

Seit 1990 haben sich die Regierungen der Industriestaaten zunehmend aus der Regulierung der Wirtschaft zurückgezogen, getreu dem neoliberalen Motto: „Der Markt regelt alles am besten allein.“ Dass das nicht stimmt, wussten auch die Väter des deutschen Wirtschaftswunders der 1950er und 1960er Jahre, aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 ff..

Die Krise von 2008 ff. belegt es erneut: ein ungezügelter, deregulierter Markt führt zu Chaos, zunehmender sozialer Ungleichheit und Abbau von Demokratie. Das ist die offensichtliche Schlussfolgerung  aus über 30 Jahren Deregulierung in Großbritannien und den USA, aus über 20 Jahren Deregulierung in Deutschland und anderen kontinentaleuropäischen Ländern.

Auch ein allmächtiger Staat ist nicht die Lösung. Auch die Gegenposition zur Marktwirtschaft, die Zentralverwaltungswirtschaft in der Sowjetunion bis 1991, hat sich als gescheiterter Versuch erwiesen. Als Gorbatschow das System reformieren wollte, zerfiel es.

Mit dem Wegfall der konkurrierenden Weltmacht Sowjetunion, aufgelöst Ende 1991, bekamen in der westlichen Welt, und auch in den Transformationsstaaten, Vertreter des Marktradikalismus die Oberhand. Sie zementierten eine weltweite Macht zugunsten der Kapitalbesitzer, mit Hilfe einer überstürzten Globalisierung, die mit der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) auf eine vertragliche Grundlage gestellt wurde. Darin zählen nur Freihandel und freier Kapitalverkehr. Soziale und ökologische Ziele sowie Kontrollen des Kapitalverkehrs werden als Handelshemmnisse betrachtet und geahndet.

In dieser Ideologie ist der Staat vorwiegend Störfaktor. Folglich wurden in Deutschland, wie in allen westlichen Industrieländern, staatliche Einflussmöglichkeiten zur Einhaltung von sozialen und ökologischen Zielen abgebaut.

Ein Beispiel ist der 1996 in das Bundes-Immissionsschutz-Gesetz (§ 6) eingeführte Zwang für den Staat, eine Anlage zu genehmigen, sofern sie bestimmte Voraussetzungen erfüllt. Damit sind dem Staat die Hände gebunden, wenn zwar die planerischen Mindestanforderungen an die Anlage erfüllt sind, aber trotzdem aus anderen Gründen die Anlage problematisch ist oder der Betreiber nicht zuverlässig erscheint. Seitdem berufen sich Politiker und Verwaltungsbeamte auf den Zwang zur Genehmigung, wenn Bürger Gründe vorbringen, die gegen eine Genehmigung sprechen.

Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass die Genehmigungsbehörden vorher nicht selten sehr viel Zeit brauchten, bis sie eine Entscheidung fällten – zu Lasten der Investoren. Staatliche Kontrollen von Betrieben wurden zurückgefahren. Es gibt nicht genügend Kontrolleure – wegen der Knappheit in den öffentlichen Kassen. Oder die Betriebe können sich auf ein Umweltmanagementsystem berufen, das dem Staat gegenüber als Vertrauensgrundlage dient und den Betrieb von Kontrollen ausnimmt.

Weiterhin wurde öffentliches Eigentum und öffentliche Daseinsvorsorge mehr und mehr privatisiert. Dazu kam die Austrocknung der Staatsfinanzen durch Steuerreformen zugunsten der Wohlhabenden. Das entzog den öffentlichen Kassen in Deutschland jährlich zweistellige Milliardenbeträge. Die dadurch ausgelösten Sparzwänge der öffentlichen Hände führen zum Abbau von staatlichen Leistungen insbesondere im sozialen Bereich, im Bildungswesen, bei der Forschung, im kulturellen Bereich.

Zum Beispiel wird die Jugendarbeit in den Stadtvierteln und Dörfern zusammengestrichen. Ebenso werden die Zuschüsse an die Vereine gekürzt oder ganz gestrichen. Das reduziert die kulturelle und sportliche Breitenarbeit. Privates Sponsoring deckt die gerissenen Lücken nicht. Die Zunahme von Anhängern der rechten Szene in Ostdeutschland hat hier eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Ursache.

Aber auch in Westdeutschland sind die Effekte von staatlichem Sparen zu besichtigen: Einsparungen bei der Polizei und daraus resultierende Verunsicherung vieler Bürger haben dazu beigetragen, dass in Hamburg eine „Partei rechtsstaatlicher Offensive“ („Schill-Partei“) bei den Bürgerschaftswahlen 2001 auf 19,4 % der Stimmen kam und in die Landesregierung einzog.

Die zunehmende Marktabhängigkeit der Politik und ihre Engpässe wegen der Sparzwänge haben auch die zivilgesellschaftliche Beteiligung negativ beeinflusst. Auch hier sind Ansätze der 1970er Jahre mit der intensiven Beteiligung der Bürger an der Politik teilweise wieder verschüttet worden. Das zeigt sich am Mitgliederschwund von Parteien und Gewerkschaften und am Rückgang der Wahlbeteiligung.

 

Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in einer Sozialen, ökologischen Marktwirtschaft (SÖM)

Gefragt ist eine Lösung für die Stabilisierung und Sozialverträglichkeit der Wirtschaft, in der regulierende Aktivitäten des Staates zusammenwirken mit Unternehmen und Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften, regionalen und kommunalen Gebietskörperschaften, Bürgerinitiativen und Wissenschaftlern.

Beim Thema Staat und Wirtschaft lohnt sich ein Rückblick auf die deutsche Nachkriegszeit: Bis Ende der 1980er Jahre war die Soziale Marktwirtschaft die unangefochtene Wertbasis der Bonner Republik. Sie basierte auf dem Ordoliberalismus von Wirtschaftswissenschaftlern wie Walter Eucken und Politikern wie Ludwig Erhard. Darin hatte der Staat die Aufgabe, sowohl den Schutz weitgehend freier Märkte als auch die Einhaltung sozialer Ziele sicherzustellen. Bürgerinitiativen und Umweltverbände, die in den 1970er Jahren gegründet worden waren, und die 1980 gegründete vierte Partei Die Grünen bewirkten bei allen Parteien und auch in der Wirtschaft eine langfristige Ausrichtung auf ökologische Ziele. In diesem Kontext war die Zusammenarbeit von Markt, Staat und Zivilgesellschaft ein Faktum.

An die Erfahrungen von damals kann jetzt wieder angeknüpft werden: Ein weiterentwickelter Ordoliberalismus muss wieder an die Stelle des heutigen Marktradikalismus treten. Es geht darum, im föderalen Deutschland die Traditionen der Kooperation von demokratischen Institutionen auf allen Ebenen mit Wirtschaft und Zivilgesellschaft wieder zu beleben und neu zu finanzieren (siehe Punkt 4).

Die Rückschritte der letzten zwanzig Jahre müssen korrigiert werden, in einer der heutigen Weltwirtschaft und Weltgesellschaft angemessenen Weise. Bezogen auf die im vorigen Abschnitt erwähnten Beispiele heißt das:

Bei der Genehmigung von Anlagen nach dem BImSchG erhält der Staat wieder, wie vor 1996, ein Recht auf Nicht-Genehmigung aus allgemeinpolitischen Gründen. Im Zuge der Effizienzsteigerung in den Verwaltungen sollte das Problem des Verschleppens von Genehmigungen nicht mehr ins Gewicht fallen.

Die Staatsaufgaben im Bildungswesen, in der Gewerbeaufsicht, bei der öffentlichen Sicherheit werden vom Staat wieder verstärkt wahrgenommen.

Die Privatisierung öffentlichen Eigentums und von Einrichtungen der Daseinsvorsorge wird gestoppt. Die schon laufende Rekommunalisierung von Aufgaben der Daseinsvorsorge (Wiederbelebung oder Neugründung von Stadtwerken) ist ein Zeichen dafür, dass viele Bürger, Parlamentarier und Politiker nach den Erfahrungen der letzten 20 Jahre der Deregulierung und Privatisierung die Bedeutung staatlicher und gesellschaftlicher Einflussnahme auf die Lebenswelt wieder sehen und entsprechend tätig werden.

Weiter auszubauen ist auch die zivilgesellschaftliche oder Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen der Politik. Wenn der Staat auf diese Weise den Bürgern verdeutlicht, dass sie im Mittelpunkt seiner Aktivitäten stehen und nicht die Banken, werden sie auch bereit sein, ihre Mitwirkung zu verstärken.

 

Nicht Teil des SÖM-Konzepts ist ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Die Befürworter leiten es aus dem Sozialstaatsprinzip ab. Dieses wird durchaus unterschiedlich interpretiert, mit Extremen, die sehr weit auseinander liegen:

  • Die eher neoliberale Sichtweise sieht es schon gewahrt durch die Gewährleistung eines physischen Existenzminimums für Bedürftige.
  • Nach einer ähnlich extremen Sichtweise auf der anderen Seite des politischen Spektrums muss das Sozialstaatsprinzip die Gewährung eines bedingungslosen Grundeinkommens von 800 Euro und mehr pro Person beinhalten.

Ich schlage für eine SÖM eine mittlere Position vor. De facto gibt es in Deutschland ein Grundeinkommen für alle. Es ergibt sich aus den Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch. Diese Leistungen werden aber für viele Menschen in einer bürokratischen, unübersichtlichen, dringende Bedürfnisse nicht abdeckenden Weise erbracht. Andererseits lassen die Ausführungsbestimmungen Raum für die Erreichung von ungerechtfertigten Leistungen durch versierte Antragsteller. Diese Fehler müssen korrigiert werden, im Interesse bedürftiger Leistungsempfänger, insbesondere Kinder, aber auch im Interesse der Steuerzahler.

Die Empfänger solcher Leistungen der Allgemeinheit sollten die rechtliche Verpflichtung haben, im Rahmen ihrer gesundheitlichen und intellektuellen Möglichkeiten gemeinwohlorientierte Tätigkeiten auszuführen. Unter dem Stichwort Bürgerarbeit sind solche Konzepte bekannt. Die Realisierung auf breiter Basis wird verhindert durch organisatorische Probleme in den beteiligten Verwaltungen und dem allgemeinen Verbot, Konkurrenz zu schaffen für Arbeiten, die von der Privatwirtschaft erbracht werden könnten.

Die hier vertretene mittlere Position für die Interpretation des Sozialstaatsprinzips besteht darin, eine gegenseitige Verpflichtung zwischen Bürgern und Gesellschaft bei der Gewährung und Entgegennahme von öffentlichen Leistungen vorzusehen. Das zu realisieren ist Teil der kreativen Neuschöpfungen, die für eine SÖM nötig sind.

Eine staatliche Rundumversorgung als Anspruch ohne Gegenleistung kann nicht Teil einer SÖM sein, denn: Erstens stellt sich die Frage der Finanzierbarkeit. Und zweitens, noch wichtiger, wäre die Solidarität zwischen den Bürgern verletzt: warum sollen die meisten Bürger arbeiten und damit ihren Unterhalt verdienen, wenn andere den Unterhalt umsonst bekommen.

Alle diese Aspekte sind Teil eines allgemeinen Kooperationsprinzips.Diese Kooperationsorientierung, die einem stark arbeitsteiligen System angemessen ist, wird wegen des normalen menschlichen Egoismus tendenziell außer Acht gelassen. Einzelne Akteure und soziale Gruppen versuchen, zusätzliche Vorteile für sich selbst zu erreichen. Der Staat als Hüter des Gemeinwohls hat hier die Pflicht, für einen Ausgleich zu sorgen.

 

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