06 Jul 2016

Feindbild „Armut“

von Pan Pawlakudis

 

Arbeit ist nicht Ausdruck von Armut, sondern allenfalls ein Mittel zu ihrer Bekämpfung. Wer seine persönlichen Bedürfnisse nicht befriedigen kann, weil diese Forderung seiner Mittellosigkeit, lebensnotwendige Bedürfnisse befriedigen zu müssen, nicht entsprechen kann, ist arm. Die Definition der Armut selbst ist überall immer gleich; ob in New York oder Darfur. Einzig die ökonomischen Größen sind verschieden und werden gerne instrumentalisiert.

Wie in jeder Disziplin, wird auch in der Armutsforschung in Qualitäten und Quantitäten unterschieden. Aktuell definieren wir Menschen als absolut arm, wenn sie nicht mehr als 1,25US-$ pro Tag und Person zur Verfügung haben. Diese Charakterisierung ist die einzige mit einem exakten Geldwert.  Danach spricht man von der relativen Armut, wenn das Einkommen einer Person weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens beträgt, ungeachtet dessen, ob die zur Verfügung stehende Geldmenge für ein würdiges Leben reicht, um schlussendlich bei der gefühlten Armut zu enden, die all jene befürchten, die sich, aufgrund der eigenen ökonomischen Unfähigkeit sich am gesellschaftlichen Leben adäquat zu beteiligen, diskriminiert und von der Gesellschaft ausgegrenzt fühlen, was in der Folge die Angst vor einer Beschleunigung des sozialen Abstiegs verstärkt.

Prof. Dr. Karl-Heinz Brodbeck bringt uns die Definition „Armut ist ein Zustand, in dem Menschen unzureichende Einkommen beziehen“ aus einem bekannten Lehrbuch der Ökonomie [Volkswirtschaftslehre: Paul A. Samuelson, William D. Nordhaus] in Erinnerung, um es gleichsam zu recht zu hinterfragen: „Erstens ist Armut keineswegs nur ein „Zustand“, sondern ein Prozess oder Element eines Prozesses; Armut ist nicht einfach gegeben, sie wird auch erzeugt. Zweitens ist es fraglich und vielfach umstritten, was „unzureichend“ für Menschen ist, wie also Armut interpretiert, erfasst oder gemessen werden soll. Und drittens reduziert diese Definition Armut auf das Einkommen, eine monetäre, durch Märkte vermittelte Größe. Darin liegt einmal die Aussage, dass nicht marktfähige Güter aus dem Begriff des Einkommens ausgeschlossen sind, zum anderen werden stillschweigend die (globalen) Märkte als nicht zu hinterfragende institutionelle Voraussetzung beim Verständnis der Armut behauptet!“ [Karl-Heinz Brodbeck: Ökonomie der Armut,]

Vorurteil gleich Vorverurteilung

Nur Faule werden arm. Ergo: Arme sind faul. Epistemisch-doxastische Logik. Zugespitzt: wenn es regnet wird die Straße nass. Demnach wäre die Annahme logisch: wenn die Straße nass ist hat es geregnet. Die Annahme, die Stadtverwaltung hat die Straße gereinigt, käme zwar auch in Betracht, aber nicht auf Anhieb erkennbare Erklärungen mindern die Attraktivität der einfachen Antwort auf eine komplizierte Frage.

Einfache Antworten sind beliebt und die Identifizierung sozioökonomischer Feinde – vor allem ökonomischer Feinde – ein einträglicher, elitärer Sport. Im absoluten Kapitalismus, der sich nicht um die Rettung unproduktiver Unternehmen schert und sie vom Markt entfernt, wie auch im Scheinkapitalismus, der dann dieselben Unternehmen „rettet“, wurde ein neuer Feind identifiziert: Die Arbeitslosen!

Der Sozialforscher Prof. em. Dr. Wilhelm Heitmeyer forschte zehn Jahre an der Universität Bielefeld und untersuchte, wie weit sich die Einstellung der Bevölkerung zu bestimmte gesellschaftlichen Gruppen veränderte: Der Langzeitarbeitslose und ALGII-Empfänger avancierte zu einem stabilen Feindbild. 61% der Befragten empörten sich darüber, dass sich ALGII-Empfänger ein bequemes Leben auf Kosten der Gesellschaft machen.

Befeuert werden derartige Vorurteile zudem von bestimmten Medien und auch von Wissenschaftlern, die sich mit denen gemein machen, die sich berufen und genötigt fühlen, den Sozialstaat zu kritisieren. Begonnen hat das Projekt „Liberalisierung der Gesellschaft“ mit der Kampfansage Gerhard Schröders: „Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserem Land“,  der somit als erster Politiker die Gleichung artikulierte: „Arbeitslos gleich faul“. Franz Müntefering, einer der zentralen Denker der Schröderschen Politik,  folgte seinem Kanzler und zitierte nicht weniger als das Pauluszitat „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“ absichtlich falsch: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Heute ist Franz Müntefering Ehrenpräsident beim Arbeiter-Samariter-Bund und kümmert sich um Hilfsbedürftige.

Dagegen hat das Nürnberger Institut für Arbeitsmarktforschung in einer Studie festgestellt, dass Hartz-IV-Empfänger höher arbeitsmotiviert sind als der Rest der Bevölkerung.

Ein zentrales Teilprojekt, ohne das es keine Markt-Liberalisierung geben konnte, war die Arbeitsmarktreform, die mit den Hartz-Gesetzen in Verbindung mit der Rentenreform (Rürup-Rente und Riester-Rente), die abhängig Beschäftigten und vor allem die Gewerkschaften anvisierte, um die Senkung der Löhne und Gehälter populär zu machen. Die hierfür Verantwortlichen aus Lobby und Politik provozierten Angst und eine neue Einstellung in der Mittelschicht; sie sollte sich über das scheinmoralische Gefühl der Verachtung von den Arbeitslosen abgrenzen. Die Gesellschaft begann sich selbst zu vergiften!

Angst ist kein guter Ratgeber. Wer Angst hat, stellt keine Forderungen und wird zudem gefügig. Die Repressionen in den JobCentern der Republik nehmen zu. Kaum einer, der nachempfinden kann, wie zerstörerisch der demotivierende Druck auf die Schwächsten unserer Gesellschaft wirkt: Hartz-IV-Empfänger müssen immer erreichbar sein, ihren Kontostand offenbaren, müssen jede noch so fragliche Fördermaßnahme annehmen, auch diejenigen übrigens, die eher auf der Seite der Ausbilder gehören, als auf die der Auszubildenden. Zudem werden ihnen empfindliche Kürzungen zugemutet, wenn sie nicht zu Terminen erscheinen. Eine Studie des DRK ergab, dass im Ergebnis jeder zweite Hartz-IV-Empfänger psychisch krank und/oder latent aggressiv ist und populismusgefährdet.

Die Hartz-IV-Gesetze haben nicht nur die gefühlte Armut, sondern auch die relative Armut derart ansteigen lassen, dass, so zynisch es auch klingt, in einem der reichsten Länder der Welt, die „Tafeln“, an denen sich Woche für Woche hunderttausende Menschen anstellen und um Essen betteln, sich als Wachstumsmarkt darstellen. Ein mögliches Modell für Finanzphantasten?

Franz Münteferings flapsige und herabwürdigende Einlassung „Wer nicht arbeitet, sol auch nichts essen“ (Apostel Paulus falsch zitierend), ist Realität geworden und Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, schreibt allen Ernstes in ihrem Buch „[…] es ist ein Glück, dass es die „Tafeln“ gibt, denn die „Tafeln“ sind die Antwort auf das Problem der Armut in unserem Land“. Es ist dieselbe Partei, die mit dafür verantwortlich ist, dass „Tafeln“ überhaupt existieren. Das Prinzip des Sozialstaates wurde in einen Wohltätigkeitsball transformiert wo die staatliche und gesellschaftliche Verantwortung der Generosität des Elitären wich.

Bereits 2005 verkündete Angela Merkel, die Schuld an der Staatsverschuldung läge beim Wohlfahrtsstaat. Angela Merkels Gedanken wurden bereitwillig auch von Intellektuellen, wie dem Philosophen Peter Sloterdijk und Wissenschaftlern, wie dem Statistikprofessor Dr. Walter Krämer unterstützt. Sloterdijk sprach in der FAZ von einer „Ausbeutungsumkehrung“: Die Armen beuten nun die Reichen aus. Menschen, die von 13 Euro am Tag leben, werden von Peter Sloterdijk als Ausbeuter bezeichnet und die Medien waren sich für eine zustimmende Kommentierung (u.a. „Florida-Rolf“ und „Arno Dübel – der frechste Arbeitslose der Republik“) nicht zu schade. Dr. Walter Krämer erklärte, dass ein Mensch in 9 von 10 Ländern mit dem deutschen Hartz-IV-Satz reich wäre. Gerne wird die Armut relativiert, indem Arme in verschiedenen Ländern miteinander verglichen und gegeneinander ausgespielt werden: Prof. Meinhard Miegel: „Ich halte es für eine zynische Missachtung, wenn man Menschen in Deutschland als arm bezeichnet“, oder Ursula von der Leyen: „Armut in Deutschland ist eher relativ“. In der Behinderung notwendiger Reformen, die den sozialen Frieden sichern, spielen u.a. auch die Bertelsmann Stiftung und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft eine tragende und medienwirksame Rolle.

Eine alleinerziehende Mutter in Deutschland kann schwerlich mit Frauen im Sudan oder Indien verglichen werden. Sowohl die Sozialstrukturen als auch das Empfinden von Armut sind grundsätzlich verschieden, weil auch die Bedarfe verschieden sind. Letztendlich werfen vorbenannte Experten den Armen vor, nicht arm genug auszusehen und sich arm zu reden. Die Armen entsprechen nicht ihren ästhetischen Vorstellungen von Armut. Dass aber die alleinerziehende Mutter nicht arbeiten kann, weil sie nun mal alleine zwei Kinder zu versorgen und zu erziehen hat, und die Straßenseite wechselt, um nicht an der Eisdiele oder dem Spielzeuggeschäft vorbei gehen zu müssen, ist Beweis der Armut und im wahrsten Sinne des Wortes ein Armutszeugnis!

Wer über den Tellerrand schaut, sieht mehr als nur die schmutzige Tischdecke, denn wenn aus dem Vorwurf ein Motiv wird, wird aus dem Opfer ein Täter, für den keine Moralität gelten kann.

 

Schreiben Sie einen Kommentar