09 Okt 2023

Heinz-J. Bontrup: Viertagewoche und die „Ewigkeit des Kapitals“

Viertagewoche und die „Ewigkeit des Kapitals“

Um die Verhältnisse wirklich zu verändern, braucht Arbeitszeitverkürzung eine Umverteilung des Mehrwerts

Heinz-J. Bontrup

Die diskutierte sogenannte Vier-Tage-Woche bedeutet keine Arbeitszeitverkürzung, sondern nur eine Arbeitsumverteilung. Statt 5 mal 8 Stunden, soll jetzt 4 mal 10 Stunden in der Woche gearbeitet werden. Auf Dauer 10 Stunden am Tag zu arbeiten widerspricht allen arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen. Dies führt schlicht zu schweren Gesundheitsschäden. Der Umstieg auf eine andere Arbeitsverteilung wird darüber hinaus in den meisten Branchen der Wirtschaft überhaupt nicht gehen, man denke hier nur an Schichtarbeiten oder an den Dienstleistungssektor, wo die Produktion direkt konsumiert wird.  Und man kann auch viele Arbeitsprozesse nicht mal so eben auf vier Tage in der Woche beschränken. So nach dem Motto, wir arbeiten jetzt die 40 Stunden in der Woche an vier Tagen ab. Am fünften Tag steht bei uns alles still und wir schließen die Firma ab. Ganz „Schlaue“ argumentieren hier mit Energieeinsparungen, man müsse nur noch vier Mal die Woche zur Arbeit fahren, vergessen dabei aber die Nicht-Nutzung von Maschinen und Anlagen und die damit verbundenen enormen Leerkosten sowie die Überbeanspruchung der Produktionstechnik in 10-Stunden-Tagen. Wer soll das dann am Ende bezahlen? Die Kunden über höhere Preise, die durch die Arbeitsumverteilung zusätzlich noch auf eine schlechtere Erreichbarkeit der Firmen stoßen? Und was machen wir mit den Menschen, die die höheren Preise nicht bezahlen können? Staatlich subventionieren, wie jetzt bei den steigenden Energiepreisen? Das ist alles paradox und völlig unwirtschaftlich, wobei man wissen sollte, dass Wirtschaftlichkeit immer anständig ist. Für jeden Einzelnen und für die Volkswirtschaft als Ganzes. Das viele Unternehmer und ihre Claqueure trotzdem für eine solche pervertierte Vier-Tage-Woche sind, ist schnell erklärt. Sie erhalten durch den freigesetzten fünften Arbeitstag eine zusätzliche Produktionsreserve mit bestehenden technischen Anlagen und einer eingespielten vorhandenen und produktiven Belegschaft. Und ich Wette, es werden sich viele abhängig Beschäftigte finden, die bereit sind auch am fünften Tag zur Arbeit zu erscheinen. Des lieben Geldes wegen!

Die Vier-Tage-Woche ist ein Fake. Sie impliziert keine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Eine solche echte Verkürzung der Arbeitszeit würde bei einem 8-Stunden-Tag nach einer 32-Stunden-Woche verlangen. Es müsste also die Arbeitszeit um 20 Prozent reduziert werden, was zur Kompensation eine Produktivitätssteigerung von ebenfalls 20 Prozent voraussetzt. Dies ist für kein Unternehmen zu verkraften. Selbst verteilt über fünf Jahre, wäre das immer noch eine Produktivitätssteigerung von etwas mehr als 4,3 Prozent/a.

Die 4,3 Prozent Arbeitszeitverkürzung pro Jahr müssten dann finanziert werden. Dies geht nur durch eine wertmäßige Steigerung der Arbeitsproduktivität je Arbeitsstunde (wAprod) gemäß der Formel: (…). Hier steht im Zähler des Quotienten die nur verteilbare Wertschöpfung, bereinigt um alle Vorleistungen. Dabei sind zur Wertschöpfung die Abschreibungen zu addieren, die die Kapitaleigner über die Umsatzrealisierungen für ihre Produkte als Vorabverteilung erhalten. Damit bekommen die Kapitalisten ihr vorgeschossenes Kapital zurück. Für den bekannten politischen Ökonom Elmar Altvater (1938-2018) führt dieser inhärente ökonomische Vorgang im Bestand zu einer „Ewigkeit des Kapitals“. Und man muss auch wissen, dass in der Wertgröße Wertschöpfung bereits die Inflationsrate über Preise enthalten ist. Die maximale Verteilungsmasse wertmäßige Arbeitsproduktivität beschränkt sich somit auf die reine Produktivitätsrate. Im Nenner des Quotienten steht das Arbeitsvolumen, das sich aus der Zahl der Beschäftigten multipliziert mit der Arbeitszeit je Beschäftigten zusammensetzt. Bei konstanter Wertschöpfung kommt es nur dann zu einer erhöhten wertmäßigen Arbeitsproduktivität, wenn das Arbeitsvolumen sinkt. Wird somit die Arbeitszeit nicht reduziert, so muss in Folge die Zahl der Beschäftigten sinken. Es entsteht Arbeitslosigkeit oder die schon bestehende Arbeitslosigkeit erhöht sich noch. Eine konstante Beschäftigung bei abgesenkter Arbeitszeit bedeutet für die Beschäftigten aber eine erhöhte Arbeitsintensität und damit größere Belastung. Dies alles zeigt, dass eine Steigerung der wertmäßigen Arbeitsproduktivität durch ein abgesenktes Arbeitsvolumen für die abhängig Beschäftigten keine Vorteile erbringt. Dann bleibt ceteris paribus nur eine Erhöhung der Wertschöpfung und damit ein produktivitätsorientiertes Wirtschaftswachstum.

Was bedeutet in diesem Kontext nun aber eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich? Fragt man danach, dann können die meisten die Frage nicht beantworten. Richtig ist hier nur eine Antwort: Die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich kann in obiger Ableitung zu ihrer Finanzierung lediglich in Höhe der wertmäßigen Arbeitsproduktivitätsrate gesenkt werden. Dazu wird der Lohnsatz, also das Arbeitseinkommen je geleisteter Arbeitsstunde, mit der Rate der wertmäßigen Arbeitsproduktivität erhöht und gleichzeitig die Arbeitszeit mit der Produktivitätsrate gesenkt. Dadurch kommt es zu keinem Anstieg der wettbewerbswichtigen Lohnstückkosten (Lohnsatz in Relation zur Leistung) und auch die funktionale Verteilung der Wertschöpfung zwischen Kapital und Arbeit bleibt konstant. Lohn- und Gewinnquote verändern sich nicht. Ebenso die realen (preisbereinigten) Einkommen der abhängig Beschäftigten und auch die realen Gewinne der Unternehmer erhöhen sich dann automatisch mit dem Anstieg der wertmäßigen Arbeitsproduktivität. Es gibt also nur Gewinner! Warum wird dann die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich nicht umgesetzt? Die Unternehmer wollen sie nicht, weil sie den Produktivitätsgewinn für sich alleine beanspruchen und dies in Tarifrunden auch meist durchsetzen. Und die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften lehnen Arbeitszeitverkürzung ab, weil bei den Beschäftigten überwiegend die Forderung nach mehr Lohn vor weniger Arbeitszeit kommt.

Arbeitszeitverkürzung nur mit vollem Lohnausgleich impliziert jedoch ein reines Insiderdenken der Beschäftigten. Sie arbeiten zu gleichem Reallohn weniger. Die arbeitslosen Outsider werden hier in keiner Wiese berücksichtigt. Deshalb bedarf es bei einer Arbeitszeitverkürzung auch nicht nur eines Lohnausgleichs, sondern immer auch eines Personalausgleichs. Kommt es nur zu einem Lohnausgleich, so müssen, wie schon ausgeführt, die Beschäftigten eine erhöhte Arbeitsintensität und Belastung hinnehmen. Um dies zu verhindern können aber in Höhe der wertmäßigen Arbeitsproduktivität Arbeitslose eingestellt werden und zwar zum gleichen Lohnsatz den die schon Beschäftigten erhalten und auch zur schon reduzierten Arbeitszeit. Hierdurch kommt es dann bei einer Arbeitszeitverkürzung auch nicht, wie selbst von einigen Ökonomen fälschlich behauptet wird, zu einem Nachfrageausfall, weil die erhöhte Wertschöpfung bei einem konstanten realen Lohneinkommen der Beschäftigten, siehe voller Lohnausgleich, durch das Einkommen und die Nachfrage der zuvor Arbeitslosen kompensiert wird. Auch die Lohnstückkosten bleiben konstant und an der Verteilung der Wertschöpfung zwischen Kapital und Arbeits ändert sich ebenfalls nichts.

Damit steht der gesamte Befund fest: Eine echte Arbeitszeitverkürzung muss immer bei vollem Lohn- und Personalausgleich erfolgen. Die Finanzierung wird durch den Anstieg der wertmäßigen Arbeitsproduktivität sichergestellt. Die Lohnstückkosten bleiben konstant und bei abgesenkter Arbeitszeit die realen Einkommen der Beschäftigten ebenfalls. Die Arbeitslosigkeit wird reduziert und die Gewinne der Unternehmer steigen in Höhe der Produktivitätsrate, so dass sich Lohn- und Gewinnquote nicht verändern. Es liegt also eine Verteilungsneutralität vor.

Diese ist aber inakzeptabel, weil die abhängig Beschäftigten ihre Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich klassenimmanent finanzieren und dabei auf reale Einkommenssteigerungen verzichten sowie die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Die Kapitaleigner beteiligen sich an der Finanzierung auf Grund der Verteilungsneutralität nicht mit einem Euro. Daher verlangt eine Arbeitszeitverkürzung zwingend eine Umverteilung zur Lohnquote. Dies ist auch deshalb notwendig, weil die jährlich erzielbaren wertmäßigen Arbeitsproduktivitätsraten realiter zu gering sind, um eine gut 4-prozentige Arbeitszeitverkürzung pro Jahr zu finanzieren. In den letzten 10 Jahren lag die jahresdurchschnittliche Arbeitsproduktivitätsrate in Deutschland bei nur 0,8 Prozent.

Umverteilung ist in Deutschland kein ökonomisches Problem, allenfalls ein politisches, weil eine Umverteilung zu Lasten der Kapitaleigner von diesen natürlich selbst, aber auch von der sie stützenden Macht in Politik, Wissenschaft und Medien nicht akzeptiert wird. Und dies, obwohl die abhängig Beschäftigten von der von ihnen erarbeiteten Wertschöpfung mal gerade um die 57 Prozent an Arbeitseinkommen und die Kapitaleigentümer demnach 43 Prozent an Mehrwerteinkommen erhalten. Hinter den 57 Prozent Lohnquote verbergen sich fast 42 Millionen abhängig Beschäftigte und hinter den 43 Prozent Mehrwerteinkommen nicht einmal 4 Millionen selbstständig arbeitende Menschen und ansonsten nur Kapitalprofiteure, die selbst nicht arbeiten. Einer Finanzierung der Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich durch Umverteilung zur Lohnquote steht demnach nur das Politische im Wege. Im Gegenteil, die viel zu hohe gesamtwirtschaftliche Mehrwertquote verlangt ökonomisch geradezu danach und dies behindert auch nicht, wie häufig einfach behauptet wird, den unternehmerischen Investitionsprozess. Es bleiben noch reichlich Gewinne zur Finanzierung der notwendigen Nettoinvestitionen übrig.

Schon 1976 hat der Ökonom Fitz Vilmar (1929-2015) – dem ich diesen Artikel widme – vor dem Hintergrund der damaligen Weltwirtschaftskrise von 1974/75 eine kräftige Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich gefordert. Er wendete sich in einem Beitrag an die Funktionäre der Gewerkschaften, in den kommenden Tarifrunden die Arbeitszeitfrage verstärkt auf die Agenda zu setzen und 1983 warnte Vilmar noch einmal eindringlich davor, die Arbeitszeit nicht drastisch zu verkürzen: „Wenn schwerwiegende Gefährdungen unserer Gesellschaft vermieden werden sollen, muss (…) in Zukunft Arbeitszeitverkürzung das wesentliche Mittel sein, um den jetzt und zukünftig Arbeitslosen die Möglichkeit zu geben, sich wieder in den Arbeitsprozess eingliedern zu können.“ Leider kam es zu einer adäquaten Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohn- und Personalausgleich nicht. Auch die erst ab Mitte der 1990er Jahre umgesetzte 35-Stunden-Woche erfüllte diese Forderung nicht und gilt bis heute außerdem für nur wenige Wirtschaftszweige. Die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften folgten als Insider dem dringenden Rat von Vilmar leider nicht, was ihn mehr als verärgert hat und mich übrigens auch. Das destruktive Ergebnis des Versagens ist hinlänglich bekannt: Seit Mitte der 1970er Jahre herrscht in Deutschland eine unerträglich hohe Arbeitslosigkeit mit allen negativen gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen sowie hohen fiskalischen Kosten im Milliardenbereich. Arbeitslosigkeit, so der Sozialphilosoph und Soziologe Oskar Negt, ist dabei ein „Gewaltakt gegen Menschen“.

In: OXI, Wirtschaft anders denken, Ausgabe Juli 2023, S. 11f.

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